Liebe Freunde,
eigentlich hätten wir es wissen müssen, schließlich ist es unsere vierte Indienreise und wir dürften uns nicht mehr wundern über Menschenmassen, Gerüche und Lärm, Chaos und zeitaufwändige Alltäglichkeiten, die Worte kaum beschreiben können. Dennoch möchte ich euch von einigen Alltäglichkeiten berichten:
Unser erstes Hotelzimmer in Delhi hat kein Fenster aber einen Balkon, der ist allerdings an einen Schneider untervermietet (gerade wie aus einem Roman von Rohinton Mistry). Als wir von Ladakh nach Delhi zurückkehren, haben wir ein Zimmer mit Fenster und Balkon einen Stock tiefer reserviert, aber dieses Mal wird auf unserem Balkon die Hotel-Bettwäsche sortiert.
Auf dem einzigen freien Platz neben dem Hotel ist eine große Bühne aufgebaut, auf der jeden Abend von 22 Uhr bis weit nach Mitternacht vor hunderten dicht gedrängt sitzender Zuschauer eine Episode des Ramayana aufgeführt wird. Man benutzt dabei den fest installierten Lautsprecher auf der Straße direkt vor unserem Zimmerfenster, und jedes Mal, wenn wieder mal eine Schlacht geschlagen wird, schrecken wir aus dem Tiefschlaf auf.
Nach fast 10 000 km Bahnreisen in Indien ist uns klar, dass der Kauf einer Fahrkarte immer ein besonderes Erlebnis ist. Gut gewappnet mit dem umständlich erworbenen Fahrplan und den korrekt ausgefüllten Anträgen (Namen, Adresse, Alter, Wagenklasse, Datum, Zugnummer und –name, …) für die geplanten Zugreisen der kommenden 3 Wochen machen wir uns also auf den Weg.
Erst geht’s zur Schlange vor der Auskunft, und nach einer halben Stunde wissen wir: Zwei unserer gewünschten Züge sind bereits ausgebucht, ein weiterer hat noch ein Touristenkontingent (nur mit ausländischem Pass zu bekommen) und den letzten können wir ohne weiteres buchen. Also stellen wir uns in einer der langen Schlangen vor den Buchungsschaltern an. Nach einer Stunde können wir Zug 1 (Warteliste), 2 und 3 buchen. Beim vierten Ticket blockiert der Computer und wir werden gebeten, am nächsten Tag wiederzukommen.
Am nächsten Morgen um 9 Uhr stellen wir uns wieder an, doch nach 20 Minuten herrscht Stillstand, die Frauen hinter den Schaltern plaudern miteinander, die ersten Wartenden machen es sich auf den Bänken und Stühlen bequem – Computerausfall. Geduldig warten wir ebenso wie die anderen, eine Stunde, zwei Stunden, sobald hinter den Schaltern Aktivitäten zu erkennen sind, formt sich sofort wieder die Warteschlange, aber vergeblich. Wir beschließen, den Fahrkartenkauf auf den nächsten Tag zu verlegen, eine kluge Entscheidung. Wie wir hören, wurde von Technikern aus Delhi die ganze Nacht am zentralen Reservierungssystem gebastelt.
Am nächsten Tag funktioniert es allerdings nur sporadisch, und nachdem nach einer halben Stunde Schlangestehen genau 2 Fahrkarten ausgedruckt worden sind, und dann das Schild herausgehängt wird „computer system down“, machen wir uns wieder davon.
Schließlich wollen wir auch noch etwas vom Land sehen.
Unser erster Höhepunkt der Reise ist zweifellos Ladakh, auch wenn uns der Flug hinauf auf 3500 m Höhe und in die herbstliche Kälte gesundheitlich etwas mitgenommen hat. Doch man tröstet uns: Hier wird erstmal jeder höhenkrank (das ganze Programm von Kopfschmerzen und Kurzatmigkeit bis Herzklopfen und Übelkeit). So lassen wir es langsam angehen und unternehmen erst nach 2 Eingewöhnungstagen Touren zu buddhistischen Klöstern und verfallenen Palästen. Das Indus-Tal ist wunderschön, tiefblaue Gebirgsflüsse gesäumt von herbstlich goldenen Weiden und Pappeln, umrahmt von kahlen Berghängen und schneebedeckten Gipfeln – eine Landschaft voller Klarheit. Die Häuser, Märkte und verwinkelten Gassen erinnern uns an die Reise im vergangenen Jahr in den Norden Pakistans und nach Tibet. So weltabgeschieden der Ort Leh heute zu sein scheint, so weisen doch die Gesichter der Menschen europäische wie mongolische Züge auf und zeugen davon, dass dieser Ort einstmals ein bedeutendes Handelszentrum an der südlichen Seidenstraße war.
In vielen Romanen über Indien haben wir es bereits gelesen: Zur Sommerfrische zogen sich die englischen Kolonialherren aus Delhi nach Mussorie in angenehmen 2000 m Höhe zurück, und so folgen wir ihnen. Dem Ort angemessen haben wir uns in einem der letzten gepflegten Kolonialhotels eingemietet. Unsere Suite in einem von blühenden Tagetes, Begonien und Dahlien umgebenen Gartenhaus ist mit Teak-Möbeln aus den 20er Jahren eingerichtet. Sie besteht aus einem Schlafzimmer mit zwei Sitzecken in halbrunden Erkern, einem Ankleidezimmer und einem Bad, dessen Prunkstück eine uralte Wanne mit Füßen ist. Der Preis? 30 Euro inkl. Frühstück für Zwei. Der Komplex an einem Hang unter mächtigen Nadelbäumen mit Ausblick ins Tal (sofern sich die Nebel lichten) wurde vor hundertfünfzig Jahren von einem Engländer als Ferienhaus erbaut, später von einer Maharani erweitert und in den 60er Jahren zu einem Hotel umgebaut. Leider sind die meisten Gebäude des Ortes dem Verfall preisgegeben, und wir fragen uns gerade, wie es wohl früher hier gewesen sein mag, da setzt sich ein älterer Herr an unseren Tisch und erzählt uns von rauschenden Bällen, gewaltigen Saufgelagen, hohen Herrschaften im prächtigen Kleidern, von Agatha Christie und dem Savoy Hotel, das es mit den besten Hotels Asiens aufnehmen konnte…
Nun haben wir es endlich geschafft, nach 2 Tagen ein Internet-Cafe zu finden, das USB-Anschluss und Strom hat (dafür ist gerade mal wieder der Server abgestürzt). Der Pilgerort am heiligen Fluss Ganges am Fuss des Himalaya, der 1968 durch die Beatles weltbekannt geworden ist, nennt sich wahrscheinlich zu Recht Welt-Yoga-Hauptstadt. Hier gibt es ein gewaltiges Angebot an Yoga-Kursen. Reiki, Meditationen, Ayuveda und mehr, hier kann man einfach dasitzen und staunen über Erleuchtung suchende Westler, gläubige Hindus, verrückte Sadhus, Heiler, Bettler und Magier sowie die überall frei herumlaufenden Kühe, die gestreichelt und gefüttert werden. Wir wohnen in einem Hotel hinter mehreren Ashrams, die auch die Funktion von Altersheimen zu haben scheinen (und Inder scheinen dieser letzte Lebensphase durchaus einen wichtigen Sinn zuzumessen). Jeden Abend zum Sonnenuntergang gehen wir zu einer grossen Puja ans Ghat (eine Zeremonie am Ufer des machtvoll dahinfliessenden blauen Bergflusses, die allein schon wegen der wunderbaren Musik ein Erlebnis ist). Viele Teilnehmer scheinen die kosmische Energie, die der heilige Fluss verkoerpert, zu spüren, andere geniessen die beschwingte, exotische Atmosphaere. Was auch immer, Rishikesh gibt auch in 3 Tagen genügend Anstoesse zum Nachdenken. Morgen werden wir als Kontrastprogramm in den Ramnagar Nationalpark fahren, Tiger suchen, und dann gehts weiter nach Lucknow, Eisenbahn-Fahrkarten kaufen ...
Damit möchte ich unsere erste Mail aus Indien beschließen und melde mich wieder, wenn wir unsere Rundreise durch das zentrale Tiefland entlang des heiligen Flusses Ganges hinter uns haben. Wir grüßen euch alle ganz herzlich
Renate und Stefan