Ihr Lieben,
ein ruhiger Nachmittag auf dem Land am Fuß des ältesten buddhistischen Heiligtums in Sanchi ist eine gute Gelegenheit, meinen zweiten Brief aus Indien zu beginnen. Sanchi, dessen ersten Stupa vor über 2200 Jahren Kaiser Ashoka erbauen ließ, wollten wir bereits auf unserer ersten Indienreise besuchen, hatten diesen Zwischenstopp aber aus Zeitgründen gestrichen. Fast hätte es wieder nicht geklappt, weil es unmöglich war, wegen der Feiertage ein Zugticket für die Weiterfahrt zu bekommen (und da ich in meinem ersten Brief bereits ausführlich auf dieses Thema eingegangen bin, erspare ich mir die Fortsetzung). Nun haben wir kurzerhand umgeplant und ein Flugticket ab Bhopal nach Bombay gekauft. Unsere Reiseroute seit Rishikesh (falls sie jemand auf einer Karte verfolgen möchte): Ramnagar – Corbett Nationalpark + Vangha Fishing Lodge – Moradabad – Lucknow – Jhansi – Orcha – Vidisha – Sanchi – Bhopal – Bombay.
Auch unsere anderen Ziele der vergangenen Woche hatten wir auf unserer ersten Indienreise auf dem Weg von Varanasi nach Bombay links liegen gelassen. Lucknow, eine 3,5-Millionenstadt scheint dieses am ersten Tag unseres Aufenthaltes auch verdient zu haben und alle Vorurteile gegenüber indischen Städten zu bestätigen: laut, dreckig, aggressive Rikschafahrer und Bettler … Dann aber am zweiten Tag erschließt sich ihr Reiz in Form von orientalischen Palästen, Grabmälern, Stadttoren und Moscheen. Es ist der letzte Freitag des Ramadan und hunderttausende von Männern sammeln sich zum Gebet (al-vida) in den Moscheen. Vor uns teilt sich der Strom, die Sunniten beten links in der großen Freitagsmoschee, die Schiiten rechts in der Asaf-du-Daula-Moschee. Wir fahren in einer Tonga (Pferdekutsche) zwischen dem Strom weißer Käppies hindurch zur Residency, wo Stefan endlich an einem wichtigen Originalschauplatz des ersten indischen Unabhängigkeitskrieges 1857 (unter englischem Blickwinkel als ‚Meuterei’ bezeichnet) steht.
Es ist der Tag vor Diwali, dem hinduistischen Neujahrsfest, und hektisch werden bis spät in die Nacht hinein die letzten Einkäufe erledigt. Tonnenweise wird Butterfett und Zucker mit Sahne, Trockenfrüchten und Essenzen in gigantischen Töpfen zu Süßigkeiten verkocht. Es scheint, als müsse jeder Inder in den kommenden Tagen noch einige Kilo zulegen. Auch wir kaufen uns eine kleine Portion Süßigkeiten, die uns am folgenden Tag das Abendessen und Frühstück ersetzt.
Feuerwerkskörper und Böller übertönen in diesen Tagen selbst die lautesten Hupkonzerte – zudem ist Wahlkampf in Madya Pradesh und die Parteien scheinen ihre angestrebten Prozentzahlen in Dezibel zum Ausdruck zu bringen. Wir entfliehen dem Lärm Lucknows und kommen mit gut 3-stündiger Verspätung bei Dunkelheit in Jhansi an. Alle Läden und Restaurants sind geschlossen, man hat den Jahresabschluss getätigt und huldigt nun der Göttin Lakshmi (die auch für den Wohlstand zuständig ist). Nur ein alter Mann an einem Straßenstand bereitet uns ein einfaches Mahl zu.
Am nächsten Morgen fahren wir weiter nach Orchha, einem wunderschönen kleinen, geruhsamen Ort – Indien wie aus dem Bilderbuch mit einem alten Fort hinter hohen Mauern am Fluss, gewaltigen Grabmälern einst mächtiger Herrscher und mehreren Tempeln. Aus den umliegenden Dörfern strömen die jungen Männer herbei, um im Rama-Tempel mit uralten Gesängen und Tänzen das neue Jahr zu feiern. Selbst die Tiere werden geschmückt und bunt angemalt. Wenn wir abends von unserer Terrasse aus über dem Fluss und dem Fort die Geier kreisen sehen, wieder mal der Strom ausfällt und auch Wasser nur aus Kübeln geschöpft werden kann, kommen wir uns vor wie auf einer Zeitreise fünfhundert Jahre zurück in die Vergangenheit.
Nach dreitägigen Diwali-Feiern mit unterschiedlichen Zeremonien folgt der Bruder-Schwester-Tag, an dem die Schwestern ihre Brüder ehren (einen Gruß an meinen, dem ich in Gedanken ebenfalls ein Tika auf die Stirn gedrückt habe). Am Abend schaut alles zum Himmel, denn nur wenn der neue Mond zu sehen ist, endet der Ramadan, die Fastenzeit der Muslime. In unserer Gegend hat man nicht so viel Glück wie im Norden und muss einen Tag länger fasten. Idul Fitr, das Ende des Ramadan, begehen wir nun in Sanchi, am Fuß des ersten buddhistischen Heiligtums. Die meisten Besucher sind Buddhisten aus Sri Lanka, denn hier in Indien bilden Buddhisten nur noch eine kleine Minderheit.
Nein, wir haben ihn nicht gesehen, aber viermal ganz frische Spuren. Einer Spur zufolge ist ein Tier direkt auf uns zugekommen, hat dann kehrt gemacht und sich in den Büschen am Wegrand versteckt. Der Tiger ist geduldiger als wir (es wurde auch schon dunkel), und so haben wir zumindest in der Gewissheit seiner Anwesenheit den Park verlassen. Doch auch so war es wunderschön, durch vielfältige Landschaftsformen zu fahren und dabei vielen Rehen und Vögeln aber kaum einem Menschen zu begegnen.
Zwei Tage sind wir zudem die einzigen Gäste in einer abgeschiedenen, aber äußerst komfortablen Lodge an einem glasklaren Bergfluss in einem Tal, das nur nach einem 2 km langen steilen Abstieg zu erreichen ist. Natur pur, kein Dorf und keine Straße stören die Ruhe, keine Elektrizitätsleitung durchbricht das natürliche Panorama, und am Abend überspannt das gesamte Tal ein Sternenhimmel von unglaublicher Tiefe und Intensität. Wir genießen jede Minute und haben nicht das Bedürfnis uns viel zu bewegen.
Unser dritter Besuch in der Stadt ist fast wie eine Heimkehr. Unser Freund Firdaus wartet bereits am Flugplatz auf uns, und seine Wohnung ist über das Wochenende unser indisches Zuhause. Die üblichen Einkäufe (v.a. Buchläden) und Tätigkeiten, die wir nur in einer Großstadt verrichten können, enden im Taj Mahal, dem wohl prunkvollsten Traditions-Hotel des Landes gegenüber dem Wahrzeichen der Stadt, dem Gateway of India. Auf dem Platz zwischen den beiden prachtvollen Monumentalbauten tummeln sich die professionellsten Straßenhändler, Bettler und Taschendiebe der Stadt. Ein knapp zehnjähriger Junge bittet mit Tränen überströmtem Gesicht und weinerlicher Stimme fotografierende Touristen, ihm etwas zu essen zu kaufen. Aber kaum haben diese ihm den Rücken gekehrt, wird das Essen zurückgebracht und zu Geld gemacht.
Der hervorragende italienische Kaffee im Hotel kostet soviel wie die Übernachtung in einem billigen Gästehaus. Nach den schmutzigen, chaotischen Provinzhauptstädten erscheint uns Bombay sehr sauber und modern, die erste Stadt ohne Kühe und mit den besten Tageszeitungen Indiens. Dank Firdaus, der uns am Sonntag mit dem Auto durch die untouristischen Stadtviertel fährt, lernen wir auch die anderen Gesichter der Stadt kennen: ein überwiegend von Parsen bewohntes Viertel mit baumbestandenen Vorgärten und 2-4-stöckigen Wohnhäusern aus den 20er Jahren, die aufgrund des Wohnraummangels zunehmend aufgestockt werden, das futuristische Bandra, gläserne Neubaublocks auf aufgeschüttetem Land in den Mangrovensümpfen, Slums, die Straßenränder und Kanäle Säumen sowie ganze Viertel bedecken und oft von Moscheen überragt werden sowie den schier endlosen Juhu Beach, der einen Tag nach dem Chhad-Fest (an dem hunderttausende Pilger die Sonne verehrt haben) von Müll übersät ist, und wir wundern uns, wie hier hunderte von Sandalen verloren gegangen sein können. Noch mehr erstaunt uns der Kontrast zwischen Arm und Reich und der soziale Sprengstoff, den diese Metropole mit 16 Millionen Menschen birgt.
Vor der Küste der westlichsten Provinz Indiens, Gujarat, liegt eine kleine Insel, Diu, einstmals portugiesisch, bis 1961 die indische Armee mit Waffengewalt die Kolonialherren vertrieb. Was blieb sind eine 500 Jahre alte Befestigung, eine Altstadt, deren enge Gassen von stattlichen Häusern gesäumt sind, von denen der Putz abbröckelt, und 3 einst prachtvolle alte Kirchen. Eine wird nur noch von Tauben und Schlingpflanzen belebt, die zweite ist zu einem Museum umgewidmet worden und enthält über 400 Jahre alte Holzstatuen bekannter und unbekannter Heiliger, eines im Grab liegenden Jesus und kriegerischer Engel, In der noch aktiven dritten Kirche sind fast ausschließlich Mariendarstellungen zu sehen. Ist die katholische Kirche in dieser Gegend der Welt in den vergangenen Jahrhunderten weiblich geworden?
In Diu sehen wir keine Reisegruppen aber gut 20 junge Backpacker. Man trifft sich abends in einem kleinen Gartenrestaurant. Eine Neuseeländerin und ein Amerikaner unterhalten sich am Nachbartisch und einige Israelis hören interessiert zu. Sie ist schon viel herumgekommen, in Europa, West- und Zentralasien. Was ihr am besten gefallen hat: Syrien und Berlin – echt cool die Stadt und für europäische Verhältnisse gar nicht teuer.
Also liebe Freunde in Berlin, das ist doch ein Grund zur Freude. Auch allen anderen wünschen wir einen Grund zur Freude und verabschieden uns für heute von einer kleinen, geruhsamen Insel bei 30 Grad im Schatten.
Renate und Stefan