TRAVELSTORIES – Stefan & Renate Loose unterwegs

gesammelte Briefe 2004–2024

Sasan Gir, Junagadh, in Kutch und in Goa

Liebe Freunde,

erinnert ihr euch noch an meine letzte Mail: Allerheiligen in Diu? Was wirklich passierte: In dem Museum sind abends alle Heiligenstatuen mit Tagetes-Kränzen geschmückt und der im Grab liegende Jesus mit einer bunt blinkenden Lichterkette. Kerzen erleuchten die zu einem Museum umgewidmete Kirche, in der man einige Stühle für einen Gottesdienst aufgestellt hatte. Entgegen der Reiseführer werden die Gottesdienste in Diu nicht mehr auf Portugiesisch sondern in Englisch abgehalten. Auch ansonsten enthalten unsere beiden ins Deutsche übersetzten Guides einige Fehler, die ich manchmal nicht umhin kann zu korrigieren. Gleichzeitig bin ich sehr froh darüber, dass ich nicht alles nachrecherchieren muss, und danke jedem Indien-Autor für die große Mühe.

Zentralafrika in Nordwestindien

Der weitere Weg ins Landesinnere nach Sasan Gir erweist sich als anstrengender als gedacht. Nach einer kurzen Fahrt mit dem lokalen Bus stranden wir am Busbahnhof von Una, wo wir widersprüchliche Infos erhalten, so dass Stefan jeden ankommenden Busfahrer fragt, wohin er fährt. Nach eineinhalb Stunden kommt ein alter Klapperbus eingefahren und wird sofort von einer Menschenmenge gestürmt, und ich denke mir nur: Nein, bitte nicht! Doch! Also drängen wir uns mit unseren Rucksäcken hinein, finden noch einen Platz für unsere Füße, dann auch fürs Gepäck und nach einer Stunde auf einer holprigen Straße auch einen Sitzplatz auf der letzten Bank.

In jedem Dorf drängeln sich einige hinaus und andere hinein, doch plötzlich glauben wir zu träumen, denn der Bus hält in einem afrikanischen Dorf. Auch die Verhaltensweisen der zugestiegenen jungen Männer erscheinen uns ebenso afrikanisch wie ihre Gesichtszüge. Da erinnern wir uns an eine Geschichte, die uns Firdaus erzählt hat: In diese Gegend sollen Afrikaner eingewandert sein, die den Löwen gefolgt sind. Wir haben dieses für ein Märchen gehalten, denn die einzigen indischen Löwen, die es im Gir Forest gibt, sind die letzten Überlebenden der einst im ganzen Land verbreiteten Tierart. Schließlich kommen wir dahinter: Vor über hundert Jahren hat der Nawab von Junagadh zum Schutz der letzten Löwen nach Fachleuten gesucht und in Zentralafrika gefunden. Mittlerweile gehören diese Zuwanderer, die immer noch ihre traditionelle Kultur pflegen und nur untereinander heiraten, zu den von der Verfassung geschützten indischen Minoritäten.

Aus einem voll besetzten indischen Bus auszusteigen erfordert große Geschicklichkeit, denn sobald du aufstehst, drängt sich schon jemand auf deinen Platz, und so endest du in einer gekrümmten Haltung, in der du zudem dein Gepäck anheben und dich Richtung Ausgang bewegen musst. Da keiner nach hinten blickt und auch niemand englisch spricht, geht alles nur mit drängeln und schreien. Aber dann stehen wir draußen direkt vor einem Teestand. Dort wartet schon jemand von der Lodge, die wir angerufen haben. Diese liegt wunderschön ruhig in einer Mangoplantage. Unser Zimmer überblickt einen Fluss mit zahllosen Vögeln.

Kurz nach Sonnenaufgang unternehmen wir eine Tour in den Nationalpark um Löwen zu sehen. Uns ergeht es wie mit den Tigern, wir sehen frische Spuren und hören sogar das Brüllen eines Löwen kurz oberhalb der Straße, doch wir erblicken nur Hirsche, Affen und viele Vögel.

Wegen der stark erhöhten Eintrittspreise verzichten wir auf einen zweiten Besuch und genießen unseren Balkon. Nachmittags kommen Wasserbüffel zum Baden an den Fluss, weiße Reiher ballancieren auf ihren Rücken, bis der Hirte ihnen vom Ufer aus zu verstehen ist, dass es Zeit ist, den Heimweg anzutreten.

Wieder ein Fest in Junagadh

Nach unseren Erfahrungen mit öffentlichen Bussen nach Sassan Gir nehmen wir das Angebot von Jussuf sofort an, der uns mit seinem Safari-Jeep für 9 Euro die 60 km nach Junagath fahren will. So hoppeln wir im offenen Auto über die Landstraße, stoppen zum Frühstücken oder zum Beobachten eines Chamäleons, das gerade die Straße überquert und kommen nach 3 Stunden etwas sonnenverbrannt in unserem Hotel an, wo wir bereits erwartet werden. Vorsorglich haben wir vorgebucht, da gerade wieder einmal ein großes Fest im Gange ist und eine halbe Million Pilger aus den umliegenden Dörfern und Städten Junagadh überfluten. Wir ersparen uns in ihrer Begleitung die 10 000 Stufen hinauf auf den heiligen Berg zu steigen, aber auch im Fort und in der Altstadt mit ihren verblichenen Moscheen und Grabmälern sind wir selten allein. Beim Rundgang durch die verwinkelten Gassen fühlen wir uns zurückversetzt in 1001 Nacht.

Am Ende brauchen wir wirklich einen Jinn (in Person unseres Hotelbesitzers), der uns einen „Fliegenden Teppich“ herbeizaubert, denn eines haben wir nicht bedacht: Das Fest ist zu Ende und außer uns wollen eine halbe Million Menschen die Kleinstadt verlassen. Am Busbahnhof erhalten wir auf die Frage nach einem Ticket nach Rajkot nur ein müdes Lächeln, und auch alle Taxis sind ausgebucht. Die maximale Auslastung von Fahrzeugen jeder Art mit Passagieren wird unter Beweis gestellt. Mopeds mit Anhänger transportieren bis zu 12 Personen, in Motorrikschas, in denen normalerweise 2 Menschen Platz haben, passen auch 8 rein, auf LKWs mit über der Ladefläche eingezogenen Brettern wird ein ganzes Dorf wegtransportiert (oben sitzen die Männer, unten Frauen und Kinder, 5 Personen teilen sich mit dem Fahrer den Vordersitz und das Gepäck liegt in einem hinten überhängenden Netz).

Und wir? Wir fahren in einem Ambassador an allen vorbei. Allerdings ist unser Fahrer bereits 60 Jahre und für indische Verhältnisse sehr alt. Er will uns die ganze Strecke bis Bhuj (ca. 340 km) fahren, hat allerdings seinen Sohn mitgenommen, der die nächtliche Rückfahrt übernehmen soll. Für den Vater ist es die letzte lange Fahrt, für den Sohn die erste, keiner spricht Englisch aber es wird eine interessante neunstündige Tour.

Kunterbuntes aus dem Kutch

Kutch, die trockene Wüste im äußersten Westen Indiens ist grün, denn es hat es in den Sommermonaten ungewöhnlich viel geregnet. Auch hier hat sich das Wetter wie in vielen anderen Gegenden, in denen wir waren, geändert. Zudem hat 2001 ein großes Erdbeben mit 15 000 Toten die Gegend total verändert. In der Altstadt von Bhuj, wo wir in den nächsten Tagen leben, liegen noch viele Häuser und alte Paläste in Trümmern. Dank internationaler Hilfe wurde viel gebaut, aber wer kann es den Menschen verdenken, dass sie statt in die engen Gassen der Altstadt zurückzukehren lieber in modernen Einfamilienhäusern am Stadtrand leben wollen, dass Dorfbewohner unbeschädigte alte Lehmhütten selbst zerstört haben, um ebenfalls neue, schöne Steinhäuschen mit Ziegeldächern zu bekommen.

Nur die Nomaden ziehen von alldem unbeeindruckt weiterhin mit ihren Kamelen und Ziegenherden durch die Wüste. Wir sitzen bei ihnen im Schatten einer aufgespannten Plane. Sie wollen wissen, wo wir herkommen, ob wir auch Kamele haben, was wir essen und wie lange wir unterwegs waren (ja, wenn die Grenzen nicht wären, könnte man in einem halben Jahr in Deutschland sein). Ihre Vorfahren stammen aus dem heutigen Iran und Afghanistan, doch die nahe Grenze zu Pakistan ist auch für sie unüberwindbar, und so ziehen sie durch die Trockengebiete Indiens. In den Dörfern leben verschiedene Ethnien, die für ihre außergewöhnlich feinen und bunten Stickereien international bekannt sind. Da wir unser Gepäck nicht allzusehr belasten und unsere Schränke nicht noch weiter füllen wollen, halten wir uns mit Einkäufen zurück, auch wenn es schwer fällt. Allerdings sind die bunt gekleideten Menschen eine wahre Augenweide und haben nichts dagegen, fotografiert zu werden, ganz im Gegenteil (also bereitet euch in Berlin schon mal auf einen bunten Indien-Abend vor).

Ahmedabad – endlich wieder Großstadt

Fast schon hätten wir es vergessen, wie es ist, sich in einer Motorrikscha durch dichten Verkehr zu wuseln, abgasgeschwängerte Luft zu atmen und jedes Überqueren der Straße als ein überstandenes Abenteuer zu erleben. Andererseits ist es auch schön, ein paar Stunden in einer klimatisierten Buchhandlung zu schmökern (und sich mit Lesematerial für Goa einzudecken), richtigen Kaffee zu trinken und gut essen zu gehen. Ein luxuriöses Boutiquehotel um die Ecke von unserer etwas einfacheren Bleibe offeriert Luxus-Thalis für knapp 300 Rupies. Da Gujarat bekannt für seine gute Küche ist und man für diesen Preis zehn normale Thalis bekommen kann, sind die Erwartungen hoch gesteckt und werden nicht enttäuscht. Wir erleben ein kulinarisches Fest für alle Sinne und tafeln fürstlich auf einer mit Öllampen erleuchteten, romantisch gestalteten Dachterrasse zur Musik unserer Lieblingssängerin Abida.
Das größte Highlight der Stadt ist jedoch das Textilmuseum (freier Eintritt!). Vielleicht wisst ihr um meine Leidenschaft für Textilien, und es gibt wohl keine andere Region weltweit, wo es eine solch reiche Textil-Tradition gibt wie in Gujarat. Allein schon das Gebäude, ein Haveli aus altem burmesischem Teakholz mitten in einem gepflegten Park ist sehenswert, aber was die Besitzer darin zusammengetragen haben, lässt das Herz höher schlagen. Die feinsten Stoffe und Batiken, unglaublichen Webarbeiten und Stickereien, seidenen Saris, Doppelikat, Brokatstoffe und jahrhundertealten Handarbeiten, die von Herrschenden im Orient und Okzident in Auftrag gegeben wurden, können nur im Rahmen einer Tour besichtigt werden. Um die empfindlichen Stoffe und Farben nicht zu zerstören wird nur für kurze Zeit das Licht eingeschaltet. Keiner darf eine Tasche mit hineinnehmen oder gar eine Kamera. Da selbst die teuren Postkarten nur ein schwaches Abbild der ganzen Schönheit liefern, gibt es nur eine Möglichkeit dieses zu erleben: Fahrt mal hin, es lohnt sich (selbst Stefan ist total begeistert und meint, dass wir noch einmal hinfahren müssen – aber das sagt er ja öfter).
Ein weiteres Highlight Achmedabads ist der Ashram von Mahathma Gandhi, den er in den 20er Jahren errichten ließ. Hier wurden die großen Aktionen des gesellschaftlichen Ungehorsams geplant. Gandhiji selbst wurde in einem kleinen Küstenort westlich von Bhuj geboren, den wir aber leider aufgrund unseres gedrängten Programms auf dieser Reise nicht besucht haben.

Urlaub in Goa

Wir wagen ein Experiment und lassen uns auf etwas ein, das wir bislang noch nie erlebt aber bereits in verschiedensten Formen beobachtet haben: Wir bewegen uns seit Tagen nicht vom Fleck und machen Urlaub. Nicht nur 3 oder 4 Tage Luft schnappen, sondern ganze 12 Tage Strandleben in Goa, während der wir so manches Absonderliche erleben:

 

Jeden Morgen wachen wir im gleichen Bett bei Meeresrauschen auf, finden im Waschbecken keine fremden Haare vor (über andere Relikte Unbekannter ganz zu schweigen), waschen Wäsche ohne darüber nachzudenken, ob sie rechtzeitig bis zur Abreise trocken ist, wissen bereits, wo der Fisch besonders frisch ist, können ohne Blick auf die Speisekarte bestellen und wegen dem üblichen Mangel an Wechselgeld erst am folgenden Tag bezahlen; erhalten am Kiosk ohne zu handeln Sonderpreise, schaffen es, einige komplizierte Bücher zu lesen, leben planlos in den Tag hinein, doch unsere Rucksäcke bleiben immer gepackt (außer an dem Tag, an dem sie dank einer gründlichen Wäsche ihre Farbe wechseln).

 

Unsere Spazierwege führen am Strand entlang entweder nach links in 30 Minuten ins Dorf Benaulim oder nach rechts in etwa gleicher Zeit nach Colva. Im ersteren gibt es Postkarten, einen Minimarkt und eine German Bakery, im zweiten ein Postamt, ein Geldautomat und ein indisches Restaurant mit billigen Thalis. Zudem bietet uns Colva das Vergnügen, indisches Strandleben zu bestaunen. Hier entladen die Busse Touristen aus ganz Indien direkt am Strand, wo sie - je nach Temperament - dicht gedrängt am Ufer das Strandleben Goas bestaunen (v.a. kräftig gebaute russische Bikinischönheiten), sich mit gelüpfter Sari knietief ins Wasser wagen oder sich gar in die Wellen stürzen (fast ausnahmslos Männer). Da man das Vergnügen am liebsten in der Gruppe genießt, wagt sich kaum jemand weiter als hundert Meter vom Busparkplatz zu entfernen, so dass die europäischen Sonnenanbeter an den anderen Stränden in Ruhe gelassen werden. Wir haben allerdings einen Selbstversuch auf der Liege nach einer knappen Stunde trotz Schatten aufgegeben und uns lieber auf unseren Balkon zurückgezogen. Hier beende ich nun diese Mail bevor wir wieder einmal den Zug besteigen und uns aufmachen nach Hampi.

 

 

Viele Grüße nach Deutschland

von Renate und Stefan in Goa

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