Ihr Lieben,
dieses ist unser letzter Tag in Indien. Zum letzten Mal sind wir umgeben von dieser Intensität an Gerüchen, Geräuschen und Bewegungen, die es sonst nirgends gibt. Zum erstenmal seit Monaten macht sich seit einigen Tagen ein Gefühl von Abschied nehmen in uns breit und beginnt in unsere Gespräche einzudringen, unsere Handlungen mitzubestimmen. Wir organisieren uns beim Thai-Konsulat in Chennai auf indische Art innerhalb eines Tages das thailändische Visum. Ansonsten hätten wir wegen des Königsgeburtstags 3 Tage in dem wegen der hohen Luft- und Wasserverschmutzung wenig attraktiven Chennai verbringen müssen.
Auf meine Rundmails zurückblickend habe ich eigentlich zuviel Text damit verschwendet, euch von dem zu berichten, was eigentlich nur den Rahmen des ganzen Indien-Bildes darstellt. Vielleicht habe ich sogar zuviel von dem ganzen Mist, Dreck und Stress berichtet, und ihr fragt euch mittlerweile, warum wir uns das eigentlich antun.
Wenn wir auf die vergangenen zehn Wochen zurückblicken, dann waren die unangenehmen Erfahrungen ein notwendiger Teil unseres Gesamtbildes, denn vor einem dunklen Hintergrund strahlt das Schöne umso intensiver. Es war wieder eine sehr intensive Zeit mit einer großen Bandbreite an einmaligen Erlebnissen, interessanten Büchern, die wir gelesen und Gespräche, die wir geführt haben. Auf der Durchreise wurden wir mit einer Vielfalt an Lebensentwürfen konfrontiert, die uns nicht gleichgültig gelassen haben, und haben mittlerweile eine Gelassenheit entwickelt, die vielleicht gerade daraus resultiert. Aber wie kann ich dieses in Worte fassen? Ist es überhaupt möglich, die Intensität eines einzigen bewusst erlebten Tages in Indien zu schildern? Ich fürchte, es geht vielzuviel dabei verloren, das ganze Masala an intensiven Düften, ungewohnten Geräuschen und Bewegungen allemal. Deshalb gebt euch bitte mit einigen unzureichenden Abschiedsworten zufrieden.
Indien, das wir in wenigen Stunden verlassen und schon morgen vermissen werden, ist ein Land, in das wir zurückkehren wollen, schon allein um zu sehen, ob es das noch hat, was wir an ihm schätzen: die Intensität, Tiefe und Zeitlosigkeit. In über zweitausend Jahre alten Tempeln werden immer noch die alten Rituale begangen und Nomaden ziehen unbeeindruckt von kraftprotzenden Geländewagen ihrer Wege. Wo sonst entscheiden sich Menschen freiwillig, in steinzeitliche Höhlen zurückzukehren und werden dafür nicht für verrückt erklärt, sondern wie Heilige verehrt? Hier führen die Buchhandlungen mehr Bücher zu esotherischen Themen (auf Englisch) als Reiseführer, und es sind nicht nur populärwissenschaftliche seichte Improve-Yourself-Bücher sondern auch Werke von Satre, Kant und natürlich allen indischen Gurus. Hermann Hesses Siddhata ist immer in mehreren Ausgaben vorhanden, und in jeder noch so kleinen Buchhandlung finden wir wieder das eine oder andere Buch, das wir schon längst mal lesen wollten. Deshalb haben wir gestern ein Paket gepackt und 6 kg gelesene Bücher, die wir behalten wollen, Richtung Berlin geschickt.
Auf der letzten Strecke unserer Reise von Goa über Hampi, Bangalore und Chennai nach Mamallapuram bewegen wir uns durch bereits bekannte Orte und sind dadurch in der Lage, etwas von der Entwicklung der vergangenen Jahre mitzubekommen. Der Aufbruch in Goa fällt uns leicht, denn Urlaub macht krank. Einige Tage pflegen wir unsere Wehwechen, das Wetter ist ebenfalls etwas trübsinnig und zu allem Überfluss spült das Meer hunderte toter Fische an den Strand. Wie wir herausfinden, hat eine Chemiefabrik an der Küste ihre Tanks gewaschen (aber nichts davon steht in der Zeitung, und am nächsten Morgen kommt die Armee mit LKWs, und bis die ersten Touristen an den Strand kommen, haben sie alle Fische aufgesammelt).
Die Eisenbahnfahrt hinauf nach Hampi machen wir bereits zum dritten Mal. Die außergewöhnliche Felsenlandschaft und die Relikte einer vor 500 Jahren untergegangenen mächtigen Stadt faszinieren uns wieder aufs Neue. Immer mehr Urlauber finden den Weg von Goa herauf und stellen mittlerweile die Mehrheit der Übernachtungsgäste. Auch sie sind nach wenigen Tagen von der entspannten Atmosphäre infiziert, und viele bleiben länger als geplant. Nach dem modernen Bangalore (endlich wieder schneller Inernetzugang, Mädels in Jeans, gute Restaurants und kühles Bier!) und dem wenig attraktiven Chennai kehren wir nach Mamallapuram zurück, wo wir gleich einige bekannte Gesichter aus Hampi wiedersehen. Wir haben vor zwei Jahren das Dorf direkt nach dem Tsunami verlassen mit kaputten Booten in den Straßen, einem vermüllten Strand und traumatisierten Menschen.
Seither hat sich das Bild völlig gewandelt, nur der Strand ist immer noch voller Müll. Die Hilfsorganisationen haben das Dorf mit Spenden überschüttet und am Strand liegen über fünfzig mit Spendernamen beschriftete Fischerboote. Der Tsunami hat jedem zweiten Fischer ein eigenes Boot beschert, aber es braucht vier Männer, um hinauszufahren. Die wunderbare Bootvermehrung steht zudem in einem umgekehrten Verhältnis zu den Fischen. Seit dem Tsunami gibt es kaum noch Fische an dieser Küste. Als ich mit einem Einheimischen darüber rede, äußere ich die Vermutung, dass sie möglicherweise während des Tsunami von der Strömung an die thailändische Küste getrieben worden sein könnten, und da dort das Wasser nicht so verschmutzt ist, wollen sie nun nicht zurückkehren. Er hört mir zu und stimmt zu.
In Hampi wie Mamallapuram sind es ehemalige Bauern und Fischer, die nun Gästehäuser betreiben und Geschäfte mit Touristen machen, sei es als Guides, mit Restaurants, Klamottenläden oder einem kleinen Kiosk. Sie haben keine Ausbildung als Touristiker sondern lernen allein durch ihre Erfahrungen, wobei der eine vom anderen kopiert, so dass das Angebot vieler Läden und die Speisekarte in den Restaurants austauschbar ist. Dazwischen hocken die Kashmiris mit ihren professionelleren Lädchen, die indische Mode ebenso verkaufen wie Silberschmuck und Teppiche. Im Gegensatz zu den dunkelhäutigen Südindern sehen sie schon fast europäisch aus. Inmitten der Hindu-Dorfbewohner, die ein dichtes Netz an Klatsch, Eifersüchteleien und Feindschaften miteinander verbindet, sind die islamischen jungen Männer, Flüchtlinge aus dem umkämpften Kashmir, Außenseiter und haben kein leichtes Leben. Wir haben Zeit ihnen und auch den jungen Männern aus dem Dorf zuzuhören, und erfahren unglaubliche Geschichten von Erpressungen und Entführungen, aber auch von Liebesdramen, die filmreif sind.
Einige junge Männer, die mit Touristen aufgewachsen sind und die relativ gutes Englisch sprechen, sind sehr intelligent, haben aber keine quaifizierte Ausbildung erhalten. Sie lernen Fremdsprachen von Touristen und versuchen mit ihrem Wissen so gut es geht, ihre Gäste zufriedenzustellen. Da wir ihre Eltern sein könnten, stört es sie nicht, wenn wir ihnen Fragen stellen über ihr Leben, ihre Freunde und Träume. Hier gibt es ebensoviele Spinner, Helden und gebrochene Herzen wie bei uns, ebensoviel Liebe, Eifersucht und Neid, nur drückt es sich anders aus. Ihr braucht euch bloß vorzustellen, dass in Bombay auf gleicher Fläche wie in Berlin fünfmal soviele Menschen leben, also auch in eurer Wohnung statt zwei nun zehn oder statt vier nun zwanzig Personen. Das erfordert ein völlig anderes Zusammenleben, mehr Rücksichtnahme und mehr Wissen übereinander. Jeder kennt die Verwandtschaftsverhältnisse in der Großfamilie, die Höhe der Schulden, die durch die Hochzeit der Tochter aufgelaufen sind … Aber ich möchte hier nicht fortfahren, sondern hebe mir die interessantesten Geschichten für einen Abend in Berlin bei einer Flasche Rotwein (seufz!) auf. Es wird langsam dunkel, Zeit für den letzten Sonnenuntergang auf unserem Dach, und dann werde ich euch noch als letzte Handlung in Indien vor unsere Abfahrt zum Flugplatz diese Mail schicken.
Einen letzten Gruß aus Indien mit einem Duft von Jasmin, Räucherstäbchen und Kokos von
Renate und Stefan