Ihr Lieben,
nach unserer letzten Mail von den Molukken haben einige doch wissen wollen, ob wir die Frauen getroffen haben, die wir vor 30 Jahren fotografiert hatten. Daher noch ein …
Endlich haben wir ein Auto organisiert, um hinauf nach Ema zu fahren, wo wir hoffen, die Frauen zu treffen. Vor dreißig Jahren lag dieser Bergort südlich der Stadt Ambon drei Stunden Fußmarsch von Soya entfernt. Nun führt eine schmale Straße in endlosen Kurven über die Berge, und von dieser aus ist es nur eine knappe halbe Stunde zu Fuß den Berg hinauf.
An der Abzweigung des Fußpfades steht ein alter, überladener Bus bereit zur Abfahrt. Von Passagieren aus Ema erfahren wir, dass die eine Frau bereits verstorben und die andere gerade in Ambon ist. Wir könnten sie über ihren Neffen Karel kontaktieren, der in einem Hotel arbeitet – nicht in irgendeinem sondern in unserem!
Zurück in Ambon zeigen wir ihm das Foto, und er beschließt sofort seine Tante zu holen. Sie ist klein geworden und hat die meisten Zähne verloren, aber sammelt immer noch Holz im Bergwald. Als sie das Foto sieht, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht: Sie kann sich noch genau daran erinnern, dass sie vor 30 Jahren von Touristen fotografiert worden ist und wo es war. Damals, da war sie noch nicht einmal verheiratet …
Der kürzeste Weg von der Insel Ambon nach Bali führt über Makassar. Bereits vor Sonnenaufgang machen wir uns auf den Weg zum Flugplatz. Der christliche Taxifahrer braust mit heruntergekurbelten Fensterscheiben und lauten Chorälen durch Batu Merah, dem muslimischen Viertel, das er bei Dunkelheit höchst ungern durchquert. Das aus Papua kommende Flugzeug startet mit Verspätung, und so können wir in Makassar dem Anschlussflieger nur noch auf der Startbahn zuwinken. Uns werden die letzten beiden Plätze (die engen, stinkenden Sitze vor der Toilette) auf einer Maschine nach Surabaya zugewiesen, wo wir sofort Anschluss nach Bali haben sollen. Dieser Flieger ist aber ausgebucht, und wir kommen erst auf den Nachmittagsflug. Das macht letztendlich keinen Unterschied, da die erste Maschine verspätet ist ebenso wie unsere. So warten wir dicht gedrängt und geduldig in der Wartehalle bis es über fünf Stunden später zu guter Letzt nach Bali weitergeht. Das Gepäck ist – wie zu erwarten – bei dieser Odyssee verloren gegangen und kommt erst mit dem nächsten Flug aus Makassar an.
Es ist bereits dunkel, als wir in Sanur eintreffen. Dort sind wir mit unserem Sohn Mischa und seinen Kollegen verabredet, die gerade Bali recherchieren. Interessant sind unsere gemeinsamen Begegnungen mit Pionieren der Globetrotter-, Traveller-, Alternativreisenden-, Backpacker-Szene – oder wie sie im Laufe der Jahrzehnte auch immer genannt wurde – den Autoren der ersten Reiseführer Bill Dalton (Indonesia Handbook) und Tony und Maureen Wheeler (Lonely Planet) ebenso wie den Betreiberinnen der ersten Gästehäuser in Ubud Okawati und Canderi. Statt zu recherchieren plaudern wir mit Marina und Ulli, die schon lange mit einheimischen Künstlern auf Bali verheiratet sind, sowie mit unserem alten Freund, dem Schweizer Konsul Jon Zürcher, der Überland mit dem VW-Bus Anfang der 70er Jahre in Bali eintraf.
Für ein wenig Aufregung sorgt am letzten Tag noch ein Erdbeben. Wir steigen gerade ins Auto ein und denken: „Wer rüttelt am Auto?“, realisieren aber schnell, dass es ein Erdbeben sein muss. Es ist schon komisch, auszusteigen und zu spüren, wie sich die Erde unter den Füßen bewegt und zu hören, wie alle Hunde bellen, Hühner gackern und die gesamte Welt in Aufregung zu sein scheint. Nur die Balinesen stehen da und lächeln.
Unser erster Blick geht nach oben, weil wir unter Kokospalmen parken. Aber diese sind Gottseidank abgeerntet. Allerdings schwankt die über zwei Meter hohe Begrenzungsmauer erheblich, und genau davor stehen zwei Franzosen mit ihrem Motorrad. Wir rufen ihnen zu: „Geht weg von der Mauer!“ Aber da hörte das Beben schon auf. Auf dem Rückweg hören wir erstaunt, dass es ein Erdbeben der Stärke 6,8 gewesen ist, das in unserer Straße anscheinend nur ein paar Ziegel vom Dach geschüttelt hat. Als wir allerdings duschen wollen, müssen wir feststellen, dass die Wanne voller kaputter Fliesen ist, die sich von der Wand gelöst haben.
Eine private Einladung ist ein willkommener Anlass für einen Flug nach Melbourne und das Wiedersehen mit vielen alten Freunden, die wir teils Jahre nicht gesehen haben. Allerdings fliegen selbst wir nicht mal einfach so für einen Abend nach Australien. Deshalb freuen wir uns sehr, als uns Richard, den wir über Lonely Planet kennen- und schätzengelernt haben, das Wochenendhaus der Familie an der Surf Coast, dem Beginn der Great Ocean Road, als Bleibe anbietet. Es sind die ersten warmen Frühlingstage, und das Thermometer klettert von morgens fünf Grad (im Haus) auf fünfunddreißig Grad am Nachmittag an. Die kilometerlangen Strände sind dennoch fast menschenleer. Nach den vergangenen Wochen auf den relativ dicht bewohnten indonesischen Inseln genießen wir dieses besonders, ebenso den sauberen, weißen Sand und die klare Luft. Die antarktischen Wassertemperaturen und hohen Wellen locken allerdings höchstens Surfer in Neoprenanzügen aufs Meer.
Nach zwei weiteren Tagen bei unserer Freundin Anne in Melbourne, als die nächste Kaltfront mit Regenschauern heranzieht, machen wir uns auf den Weg Richtung Norden. Fast fünf Stunden dauert der Flug nach Darwin im tropischen Norden, und zum ersten Mal sehen wir staunend den riesigen australischen Kontinent aus der Luft. Wer möchte, kann sich auf Google Earth anschauen, wie das weite, kahle Landesinnere unberührt von jeglicher menschlichen Aktivität zu sein scheint, wie graue, braune und leuchtend rote Erdschichten dieses uralten Kontinents durch Wind und Wasser zu fantastischen Mustern verwoben werden. Selten war ein Flug spannender.
In Darwin, kurz vor dem Monsun, herrscht Mangomania. In unserer Unterkunft bekommen wir eine Mango geschenkt, die unglaublich süß und fruchtig schmeckt. Deshalb fahren wir am nächsten Morgen gleich zum Markt, um uns für die Reise einzudecken. Eigentlich wollten wir nur vier Mangos kaufen, doch der Händler gibt uns für umgerechnet 3,50 Euro eine ganze Plastiktüte voll mit zwölf großen, reifen Früchten. Da wir dank Britz für die nächsten vier Tage mit einem Geländewagen ausgestattet sind und dieser unter anderem auch über einen Kühlschrank verfügt, verstauen wir unsere Mangos erst einmal mit allen anderen Einkäufen. Dann geht es los Richtung Osten in den Kakadu Nationalpark, dem größten Naturschutzgebiet Australiens und Unesco-Weltnaturerbe.
Da Stefan mit einem Geländewagen höchst ungern langweilige Hauptstraßen fährt, wenn es interessantere, unbefestigte Nebenstrecken gibt, finden wir uns schon bald auf einer dieser Pisten wieder. Auf über hundert Kilometern begegnet uns kein einziges Auto. Nur einmal steht etwas Großes, Schwarzes mitten auf der Straße. Es ist ein ausgewachsener Hengst, der schnell in die Büsche galoppiert. Ja, und dann gilt es irgendwann den ersten krokodilverseuchten Fluss zu durchqueren. Mit etwas Herzklopfen halten wir am jenseitigen Ufer an und sehen nicht weit entfernt ein Zelt und Auto stehen. Alle Türen stehen offen, und aus der Motorhaube baumelt ein Starterkabel. Kein Mensch ist zu sehen. Wir beschließen am Flussufer zu picknicken und die ersten Mangos zu genießen. Als immer noch niemand auftaucht, machen wir uns Gedanken. Schließlich entdecken wir den Besitzer beim Angeln. Er hat gerade einen über 60 Zentimeter langen Barramundi aus dem Fluss gezogen, den er sich gleich grillen will. Zum Nachtisch schenken wir ihm eine Mango. Auch bei uns gibt es Mangos am Abend und zum Frühstück statt Marmelade aufs Brot.
Wir quartieren uns in Jabiru ein, dem letzen Ort vor Arnhemland, dem autonomen Gebiet der Aborigines, das nur mit Sondergenehmigung besucht werden kann. Alles Überflüssige lassen wir in der Unterkunft als wir uns auf den Weg zu den Jim Jim und Twin Falls machen. Die wunderbare Landschaft mit steil aufragenden roten Felsen, kristallklaren, türkisgrünen Gewässern und mächtigen Wasserfällen ist nur über eine teils sehr schlechte Piste zu erreichen. Durch das ständige Schütteln hat sich die Einstellung unseres Kühlschranks auf „gefrieren“ heruntergestellt. Zwischen den eiskalten Wasserflaschen entdecken wir eine Mango und genießen in einer total abgelegenen Gegend das beste Mangoeis, das wir je hatten.
Neben den Landschaften fasziniert uns die alte Kultur der Urbevölkerung, der ein hervorragendes Museum gewidmet ist. Wir staunen über die bis zu 40 000 Jahre alten Felszeichnungen von Menschen und Tieren, deren Geschichten noch immer erzählt werden. Welch ein Gegensatz zu den ehemaligen, kaum hundert Jahre alten Bergbauorten Pine Creek und Batchelor. Dort ist jede alte Hütte mit einem Schild versehen, auf dem ausführlich die Geschichte ihrer Bewohner erzählt wird. Die historische Schule wurde im Jahr meiner Einschulung gegründet. Da kommt man sich plötzlich ganz schön alt vor.
Beschildert ist in Australien alles, was geregelt werden kann. Auf dem großen Highway wird die Überholspur bereits 10 km vorher angekündigt, die dann auch über 2 km lang ist, damit ausreichend Platz bleibt, um die bis zu 50 m langen Road Trains zu überholen.
Auf der Suche nach Karotten betrete ich den Laden von Ah Toy in Pine Creek. Das kleine Geschäft von 1908 mit fast unveränderter Inneneinrichtung (einschließlich einem hölzernen Drehkreuz) ist erstaunlicherweise noch immer im Besitz der Familie. Viele Chinesen, die im Bergbau gearbeitet hatten, wurden in den 1930er Jahren aus dem Land gewiesen – man wollte ein weißes Australien. In den vier Regalreihen im Laden von Ah Toy gibt es alles, was man so braucht nach der Devise „You name it, we´ve got it. Or we can get it.“ Ich steuere auf ein Pappschild mit der handgeschriebenen Aufschrift „Vegetables“ zu und finde dort drei Zwiebeln, fünf Kartoffeln und eine große Kiste Mango. Eine ähnliche Kiste stand bereits an der Kasse der Tankstelle, und viele weitere entdecken wir auf einem Lieferwagen aus den 1950er Jahren, der von einem etwa gleichaltrigen, wettergegerbten Farmer gefahren wird, der Crocodile Dundee gut Konkurrenz machen könnte.
Am Abend in einem Motel in Batchelor sind wir die einzigen Gäste im Restaurant. Noomi aus Sri Lanka steht hinter der Bar. Er hat drei Jahre Hotelmanagement in Brisbane studiert, wofür seine Familie 40 000 Australische Dollar bezahlt hat. Er will in Australien bleiben und ist nicht unglücklich hier meint dann aber: „Wo ich herkomme ist es zivilisierter als hier.“ Recht hat er, denn als wir unsere Wäsche waschen wollen, müssen wir erst einmal eine große Kröte aus der Waschtrommel entfernen, und ein winziger Frosch hat es sich auf unserer Toilette bequem gemacht.
Nach einer Tour durch den Litchfield Nationalpark und der Rückgabe des selbst gewaschenen Geländewagens, mit dem wir fast 1500 km zurückgelegt haben, bestellen wir ein Taxi. Mohammed, der Fahrer, stammt aus Hyderabad (Indien) und meint: „In einem Land der Dritten Welt zu leben gibt dir eine andere Perspektive von der Realität.“ Recht hat er, deshalb machen wir uns in wenigen Stunden wieder auf in diese andere Welt.
Unseren Zwischenstopp in Australien haben wir sehr genossen, die Gespräche mit vielen Freunden ebenso wie die tollen Landschaften, den Wein, Kaffee und vieles mehr, was wir für die nächsten Wochen wieder abschreiben können. Wir melden uns wieder in der ersten Novemberwoche. Bis dahin trotzt den Herbststürmen wie wir den Gewittern vor dem sich ankündigenden Monsun.
Aus Darwin, der Welthauptstadt der Gewitter, grüßen euch ganz herzlich
Renate und Stefan