Ihr Lieben,
in diesem Jahr lässt uns Indien kaum Zeit einen Gedanken daran zu verschwenden, wo wir eigentlich gerade gelandet sind. Die 15-Millionenstadt Kalkutta nimmt uns sofort umfangen. Es ist bereits dunkel als wir – wie üblich – mit Verspätung aus Kuala Lumpur landen. Nach einem Tag auf Flugplätzen und in engen Air Asia-Maschinen sehnen wir uns nach einem kühlen Kingfisher-Bier und sauberen Bett.
Der Biergarten des Fairlawn Hotels in der Sudder Street, eine grüne Oase inmitten der hektischen Altstadt rings um den New Market, ist seit Jahren ein beliebter abendlicher Treffpunkt von Ausländern wie einheimischen jungen Leuten. Daran haben weder mürrische Kellner noch Krähen etwas ändern können, die zu Hunderten die Bäume bevölkern und die aufgespannten Sonnenschirme wie unvorsichtige Gäste mit ihren Hinterlassenschaften bombadieren. Hier treffen wir Heidrun und Siegfried, alte Freunde aus Berlin, die bis Februar in Indien und Sri Lanka unterwegs sein werden. Unser Programm für den nächsten Tag wird noch am Abend durch einen Telefonanruf über den Haufen geworfen.
Aloka Mitra, die wir vor zwei Jahren kennengelernt haben, hat sich einen freien Tag genommen, um uns ihre Projekte zu zeigen. Die höchst beeindruckende, 71-jährige, agile Dame hat in London Wirtschaft studiert. Seit den 1960er Jahren kümmert sie sich um vernachlässigte Frauen und Kinder, die Schwächsten der indischen Gesellschaft. Wie wir der aktuellen Ausgabe des Magazins Outlook gerade entnehmen konnten, sind vor allem Mädchen und Frauen unterernährt, ungebildet und häuslicher Gewalt ausgesetzt, haben indische Frauen ein siebenmal so hohes Risiko wie in China bei der Geburt eines Kindes zu sterben.
In den Heimen der Women´s Interlink Foundation (www.womensinterlinkfoundation.org) finden junge Mädchen von der Straße ein Zuhause ebenso wie Kinderprostituierte und andere, die Opfer moderner Sklaverei geworden sind. Die Kinder werden medizinisch wie psychologisch betreut und gehen zur Schule. Die älteren, die nie lesen und schreiben gelernt haben, erhalten eine Ausbildung, die sie dazu befähigt ihr eigenes Geld zu verdienen, das sie auf einem eigenen Sparbuch selbst verwalten. In einem der Heime werden unter der Anleitung eines jungen, engagierten Amerikaners Schmuckstücke hergestellt und im anderen Stempeldrucke und Stickereien. Die Begegnungen mit diesen Kindern und Jugendlichen haben uns sehr bewegt. Ihre Gesichter sind in starkem Maße von Verletzungen geprägt aber auch von Liebe und Freude, vor allem, wenn sie Aloka Mitra sehen. Sie kümmert sich selbst noch um „ihre“ Kinder, wenn sie bereits verheiratet sind und muss gerade eine junge Mutter trösten, die sich mit ihrem Mann gestritten hat.
Uns bleibt ein weiterer Tag in Kalkutta für den geplanten Streifzug durch die Stadt. Pünktlich um 10 Uhr stehen wir im gerade geöffneten Postamt, um einen Brief abzuschicken. Es dauert exakt 20 Minuten, bis wir eine Briefmarke erhalten, denn der entsprechende Schalterbeamte muss erst lüften, die Kiste mit den Marken holen, das Teewasser aufstellen, seinen Schreibtisch segnen … Willkommen in Indien.
Und dann spazieren wir durch das großartige, spannende Straßentheater, das uns immer wieder überrascht: Winzige Läden mit unglaublichen Warenangeboten, ein riesiger Markt voller Blumen, eine große Synagoge, in der nur noch an Feiertagen fünf alte Männer beten, eine alte armenische Kirche voller historischer Grabsteine und die gewaltige Howrah-Brücke über die ein ständiger Strom an Bussen, Taxis und Fußgängern den breiten Hooghly River überquert.
Wer käme auf die Idee seinen Urlaub in Tripura zu verbringen? Wer weiß überhaupt, dass es diesen indischen Staat gibt? Ich muss gestehen, dass ich ihn vor einigen Jahren auch nicht auf einer Karte hätte lokalisieren können. Und nun sind wir gemeinsam mit Stefans altem Freund Klaus in Agartala gelandet, im kleinen Wurmfortsatz, der sich nach Bangladesh hinein erstreckt, am Beginn unserer Reise durch den Nordosten, die wieder einmal Help Tourism (www.helptourism.com) organisiert hat. Die nächste größere Stadt ist Dhaka, die Hauptstadt von Bangladesh, und der hohe Grenzzaun verläuft nur vier Kilometer westlich von Agartala. Vollbeladene LKWs kommen über den nahen Grenzübergang mit Fischen aus dem Nachbarland in zweihundert Kilo Körben, die von Tagelöhnern auf indische Lastwagen umgeladen werden.
Wo immer wir auftauchen werden wir bestaunt wie Marsmännchen und mit unaufdringlicher Freundlichkeit behandelt. Auch wenn wir nicht miteinander reden können, so können wir uns doch zur Freude aller gegenseitig fotografieren. Meine beliebten Fotoobjekte sind zudem bunt bemalte Rikschas, die hier wie im Nachbarland in großer Zahl durch die Stadt kurven.
Die erste Station unserer Rundreise ist die Sepahijala Wildlife Sanctuary, wo wir im staatlichen Gästehaus an einem See voller Zugvögel übernachten. Anderes heimisches Tierleben lässt sich selbst in unserem Bungalow gut beobachten. Im Badezimmer wohnt eine riesige, fette Spinne, und das Gebälk haben Termiten ohne größeren Widerstand in Besitz genommen. Wahrscheinlich wird unser Bungalow schon bald das Schicksal des benachbarten teilen, der bereits in Trümmern liegt. Im Wald leben äußerst scheue Nebelparder, die sich überwiegend in Bäumen aufhalten und schwer zu beobachten sind. Dafür gibt es hier einen Zoo, wo sie auch gezüchtet werden. Bei umgerechnet 10 Cent Eintritt erwarten wir nicht viel, werden aber von einigen weitläufigen Freigehegen mit seltenen einheimischen Tierarten, wie dem Indischen Löwen, dem Bengalischen Königstiger und natürlich zahlreichen Nebelpardern, überrascht.
Ein hübscher Wasserpalast im verspielten Moghulstil in der Umgebung von Udaipur ist die Top-Sehenswürdigkeit von Tripura (Eintritt 8 Cent). In das Besucherbuch haben sich in diesem Jahr bislang 38 Ausländer eingetragen, darunter fünf Deutschsprachige. Die einzige weitere in unserem Reiseführer gelistete Sehenswürdigkeit außerhalb von Agartala ist der Tripura Sundari Tempel, dessen Heiligtum noch geschlossen ist. In einer Vorhalle haben sich festlich gekleidete Familien mit Kleinkindern versammelt. Wir wollen bereits gehen, als ein lautes Trällern beginnt und den herausgeputzen Babys die erste Reismahlzeit ihres Lebens gereicht wird.
Auf der einzigen stark befahrenen, äußerst kurvenreichen Überlandstraße geht es nun 240 km hinauf in den Norden durch Teakwälder bewohnt von Bergvölkern mit südostasiatischen Wurzeln. Tausende Touristen trekken in Thailands Norden durch die Berge auf der vergeblichen Suche nach ursprünglichen Dörfern, die hier direkt neben der Straße liegen. Das Grenzgebiet liegt im Zuständigkeitsbereich der Border Roads Organization, sodass wir wieder einmal in den Genuss toller Sprüche auf Schildern am Wegesrand kommen. So warnt man: „That is steep, don´t go sleep“ und „I am risky after whisky“ aber auch etwas handfester „Drive fast reach cemetery“ oder gar mit einem sexy Unterton: „Be soft on my curves“, „Keep your nerves on sharp curves“ oder gar „Love thy neighbour but not while driving“. Die Übersetzung spare ich mir.
Die Landschaft erinnert stark an Bangladesh, das wir nur wenige Kilometer jenseits des hohen Grenzzauns vor drei Jahren bereist haben. Wir übernachten in einem Gästehaus in Kailashahar. Die Grenze teilt den Ort nur wenige Meter hinter unserem Hotel und erinnert stark an das geteilte Berlin vor dem Mauerfall. Unser eigentliches Ziel sind die über tausend Jahre alten Felsreliefs von Unakoti, die größten Indiens. Als wir den ersten Blick auf die riesigen Reliefs werfen, erinnern die versteinerten Gesichter zuerst an Angkor Wat in Kambodscha. Doch etwas anderes in diesem tief eingeschnittenen, bewaldeten Tal zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich: Dort unten baden Frauen, picknicken bunt gekleidete Bergbewohner. Nein, es ist kein Picknick sondern ein uraltes Ritual. Auf der unteren Ebene wird Shiva verehrt, und die Opfernden erhalten nach dem Ritual jeweils einen Joint. Auf der zweiten Ebene fordert Kali ein Blutopfer. Dieses Mal ist es ein schwarzer Ziegenbock, der am Fluss enthauptet wird, um mit seinem Blut und dem abgeschlagenen Kopf der Göttin zu danken. Die zum Stamm der Raiyn und Mayang gehörenden Besucher stören sich wenig an unserer Anwesenheit, im Gegenteil. Die Priester und Priesterinnen bieten auch uns ihren Segen an (allerdings ohne Joint und Blut).
Unter dem Schutz der starken Götter wird unser Chauffeur zum Rennfahrer, und wir erreichen noch vor Einbruch der Dunkelheit Agartala. Hier kann ich diesen Brief an euch zwar schreiben, aber nicht versenden, da ich keinen Netzanschluss habe, oder wie es ein Inder so nett ausgedrückt hat: „Connection disturbed“.
In der Hoffnung dass unsere Verbindung nicht gestört ist verabschieden wir uns für heute und melden uns dann wieder aus einem ganz anderen Teil Nordost-Indiens.
Renate und Stefan