Ihr Lieben,
die Hähne haben mit ihrem Morgenkonzert begonnen. Die Sonne ist in Nagaland aufgegangen und taucht eine Hügelkette nach der anderen in das erste warme Tageslicht. Dennoch ist es im Zimmer bei neun Grad noch empfindlich kühl. Noch ist Zeit bis zum Frühstück am offenen Feuer in der Küche, die aus einem anderen Jahrhundert zu stammen scheint. Es ist kaum zu glauben, dass erst zwei Wochen seit unserer letzten Mail vergangen sind. Seither haben wir viele Kilometer auf Straßen im nordostindischen Grenzgebiet zurückgelegt, in eigenartigen Orten übernachtet und mit vielen interessanten Menschen gesprochen, die vom Rest der Welt kaum wahrgenommen werden.
Von ganz Indien ist Arunachal an der Grenze zu Tibet / China und Myanmar (Burma) wohl der abgelegenste Staat, den wir bereits zweimal besucht haben. In Guwahati stößt Maria Anna zu uns, die zum ersten Mal in Indien ist und gleich ihre zweite Nacht im Zug nach Dibrugarh verbringt. Auf dem dunklen Bahnhofsvorplatz früh am Morgen wartet bereits Bittu mit einem Geländewagen auf uns. Ein weiteres Auto wird von seinem Bruder Proshanto mit Kochtöpfen und Lebensmitteln, Zelten und anderem Notwendigen beladen und mit unserer Küchencrew vorausgeschickt.
Erste Station ist Chowkham, ein von buddhistischen Khamti bewohnter Ort am Lohit, einem mächtigen Fluss, dessen klares, kaltes Wasser mit voller Kraft aus dem östlichen Himalaya in die weite Brahmaputra-Tiefebene hinabströmt. Die Khamti stammen ebenso wie die Shan in Burma und Nordthailand aus Südchina, sodass uns vieles in dieser Region wohlbekannt ist, von der Tempelarchitektur bis zur Sprache (die Zahlen sind sogar identisch wie in Thai). Es gibt mehrere sehenswerte, gepflegte Theravada-Tempel aber weder Hotels noch Restaurants. Wir wohnen im Gästehaus der buddhistischen Pali-Schule mit einem Internat für Kinder armer Familien aus abgelegenen Bergdörfern und einem neuen Museum über die Khamti- und Singpho-Kultur. Abends werden wir vom engagierten Abt und dem Schulleiter empfangen und erhalten von ihnen bei Tee und Pudding einen interessanten Einblick in die Kultur der „Elefantenbändiger“ und die gegenwärtigen sozialen Probleme.
Nun geht es durch das weite Lohit-Tal Richtung Osten hinein ins Gebiet der Mishmi durch das Orangenanbaugebiet um Wakro und gegen Mittag am Brahmakund am Fuß des Himalayas über die letzte große Brücke. Auf holprigen, schmalen Straßen erklimmen wir die erste Gebirgskette und kehren zurück in ein von hohen, steil aufragenden Bergen umgebenes schmales, malerisches Flusstal. Es ist bereits dunkel als wir unser Ziel Hawai erreichen, den letzten Verwaltungsort in der kargen Bergwelt mit „Am Ende der Welt“-Atmosphäre. Im Circuit House, das eigentlich hohen Verwaltungsbeamten vorbehalten ist, dürfen wir ausnahmsweise dank Raj, dem Chef von Help Tourism, übernachten. Eigentlich wollte er uns eine Sondergenehmigung bis zur 60 km Luftlinie entfernten chinesischen Grenze beschaffen, denn genau dort waren wir schon einmal während unserer Tibetreise. Aber bereits hier erinnert uns die Landschaft häufig an die Täler im östlichen Tibet.
In Diban am Namdapha Nationalpark nahe der burmesischen Grenze, 230 Kilometer weiter südlich, kommen wir gut durchgeschüttelt nach über zehn Stunden Fahrt an. Nach zwei ruhigeren Tagen am Rand des Bergdschungels, der Heimat des vom Aussterben bedrohten Hoolock-Gibbons und vieler anderer Tiere und Pflanzen, nähern wir uns Mpen. In diesem armen Chakma-Dorf im von Überschwemmungen bedrohten Flusstal haben wir vor vier Jahren den Grundstein zu einer Schule gelegt, die einige von euch geholfen haben mitzufinanzieren.
Bei ihrem Bau waren vielen Schwierigkeiten zu überwinden. So wurde die einzige Zufahrtsstraße während des Monsuns durch Wasserfluten zerstört, sodass notwendiges Baumaterial nur Stück für Stück in Geländewagen transportiert werden konnte. Fachkräfte, die für den Bau gebraucht wurden, verschwanden bereits nach wenigen Tagen, weil sie es in diesem abgelegenen Dorf nicht ausgehalten haben.
Deshalb freuen wir uns umso mehr, unsere Schule zu sehen, vier Klassenzimmer für die Kleinen, vom Kindergarten bis zur vierten Klasse. Mittlerweile werden hier 99 Schüler von drei Lehrern unterrichtet. Die Lehrer, der Dorfchef und Puphla, unser Verbindungsmann und Organisator aus dem Nachbarort Miao, bereiten uns einen herzlichen Empfang, der uns wünschen lässt, jeder von euch könnte mit dabei sein, der bei diesem Projekt mitgeholfen hat. Auch Asit, unser Freund von Help Tourism aus Kalkutta, ist angereist und wird uns bis Guwahati begleiten. Eltern wie Schüler haben sich festlich herausgeputzt. Jede Familie hat etwas zum Festessen beigetragen.
Wir erfahren eine große Dankbarkeit trotz vieler Unzulänglichkeiten. So gibt es nur eine einzige kleine Tafel, zehn Bänke, es fehlt an allem, von Bleistiften bis zu Büchern und vor allem ein weiterer Lehrer. Bei einem überaus konstruktiven, intensiven Gespräch mit den Lehrern und anderen Beteiligten diskutieren wir über die weitere Entwicklung der Schule, die nicht vom Staat unterstützt wird, da die Chakma unbeliebte Flüchtlinge sind. Wir wollen Lehrer und Schüler besser ausstatten, und wer uns dabei helfen möchte, kann sich gern melden.