TRAVELSTORIES – Stefan & Renate Loose unterwegs

gesammelte Briefe 2004–2024

Im Elefantenkorridor, in Shantiniketan und den Sundarbans

Ihr Lieben,
selbst von unserer letzten Etappe durch Indien gibt es einfach so viel Interessantes zu erzählen, das ich beschlossen habe, euch noch eine Mail zu schreiben. Zudem möchten wir uns bei allen bedanken, die uns geschrieben haben und unser Schweigen entschuldigen, denn wir hatten während der letzten Wochen – wenn überhaupt – nur kurzzeitig Internetzugang.

 

Mit Raj und sechs bengalischen Reisejournalisten im Elefantenkorridor

In Siliguri werden wir von Raj und seiner Familie empfangen, die uns nach vielen Besuchen während der vergangenen Jahre quasi adoptiert haben. Es bleibt nicht viel Zeit zum Erzählen, denn Raj, der Initiator und charismatische Kopf von Help Tourism, hat ein „kleines get together“ mit gestandenen Reisejournalisten aus Bengalen organisiert. Trotz nachdrücklicher Bemühungen hat von drei Gästen aus Bangladesh nur einer rechtzeitig ein Visum erhalten. Dafür ist Rajen Bali aus Kalkutta, der ansonsten nur selten Einladungen annimmt, dem Ruf von Raj gefolgt.
Die Vorbereitungen im kleinen Dorf Chamakdangi, das eingeklemmt zwischen einem geschützen Waldgebiet und dem Ufer des Teesta River liegt, sind voll im Gang. Ein großes Zelt wird aufgebaut, ein Schwein, eine Ziege und Gemüse von vielen fleißigen, freiwilligen Helfern zu Curry verarbeitet, alle haben sich in Schale geworfen.

 

Der aus dem Himalaya herabströmende, launische Teesta River hat schon mehrfach seinen Lauf geändert und das Dorf an einer Nebenstrecke der alten Seidenstraße zur Umsiedlung gezwungen. Auch während der letzten Regenzeit sind große Teile der Reisfelder und ein Wohnhaus den Wassermassen zum Opfer gefallen. Durch den Verlust der Felder sind die Bewohner fast ausschließlich auf die illegale Holzkohlegewinnung angewiesen, was zu regelmäßigen Konflikten mit der Forstbehörde führt.

Raj möchte mit dem Homestay-Projekt alternative Einkommensmöglichkeiten generieren und den Wald schützen. Erstmals steht auch die neue Regierung von Nord-Bengalen hinter einem Help Tourism-Projekt. So sind gleich drei Minister mit ihrem Gefolge angereist, zudem ein Schwarm von Journalisten, Fotografen und Kameraleuten sowie die Bürgermeisterin von Siliguri. Sie plaudert mit uns über ihre kürzliche Deutschlandreise nach München und ins Rheintal. Es hat ihr sehr gut gefallen, allerdings hat sie irritiert, dass nirgends Trinkwasser gereicht wurde. In Indien sind Wasserflaschen ständige Reisebegleiter, stehen im Hotelzimmer wie auf dem Tisch im Restaurant. Als ich ihr erkläre, dass man überall in Deutschland Wasser aus dem Hahn trinken könne, schaut sie mich ungläubig an. Wie ihr euch vorstellen könnt, wurde über das kleine „get together“ bereits wenige Stunden später in allen Medien berichtet.

Nicht genug damit. Raj hat eine dreitägige Rundreise zu Dörfern im Elefantenkorridor organisiert, in denen nachhaltige Tourismusprojekte geplant oder bereits initiiert worden sind. Die Dörfer, die wir besuchen, liegen in Dooars am Rand von Schutzgebieten, in Teeplantagen und am Fuß der Berge an der Grenze zu Bhutan. Sie werden bewohnt von Rawa, Lama, Dukpa, Metch, Nepalis und anderen Bevölkerungsgruppen, von Hindus, Buddhisten, Christen und Animisten. Überall werden wir überaus freundlich willkommen geheißen und bewirtet.

Die riesigen, üppigen subtropischen Wälder am Fuß des Himalayas sind die Heimat der größten wilden Elefantenherden Indiens. In den letzten hundert Jahren haben Menschen diese Gebiete zunehmend in Besitz genommen, traditionelle Weidegründe in Ackerland oder Teeplantagen umgewandelt und Wanderrouten mit dem Bau von Straßen und Eisenbahntrassen durchschnitten. Wenn das Futter in den Wäldern während der Trockenzeit knapp wird, suchen nun die Tiere in Dörfern und auf Feldern nach Nahrung. Überall werden von hohen, hölzernen Wachtürmen aus nachts die erntereifen Reisfelder bewacht und gegen eindringende Elefantenherden von den Dorfbewohnern lautstark verteidigt. Während die meisten Bewohner im Elefantengürtel gelernt haben mit Tieren zusammen zu leben, geht eine weit größere Gefahr von den Verkehrswegen aus. Jahr für Jahr werden Elefanten nachts vor allem von Güterzügen erfasst und schwer verletzt oder getötet.

 

Mit Klaus, Jana und Asit in Shantiniketan und den Sundarbans

Zurück in Kalkutta treffen wir unseren alten Kollegen Klaus aus Berlin und seine Tochter Jana, die gerade in Bombay arbeitet. Zusammen mit Asit fahren wir auf gut ausgebauten Straßen vier Stunden Richtung Nordwesten nach Shantiniketan nahe Bolpur. Dort hat der große bengalische Dichter Rabindranath Tagore, der 1913 als erster Nicht-Europäer den Literatur-Nobelpreis erhielt, eine offene Universität gegründet. Dieses für damalige Verhältnisse ungewöhnliche intellektuelle Zentrum lockt noch heute Lebenskünstler, hinduistisch-tantrische Bänkelsänger (Baul) und viele nicht im Mainstream Verhaftete an.
Im benachbarten Adivasidorf Balavpur Dhanga haben wir bereits vor zwei Jahren bei Aloka Mitra (siehe unsere Mail aus Kalkutta) gewohnt. Sie hat ein Lehmhaus im traditionellen Stil mit urigem Innenhof erbauen lassen und geschmackvoll mit lokalem Kunsthandwerk eingerichtet. Die hier lebenden Santal sind begabte Künstler und wurden schon früh durch die Universität von Rabindranath Tagore gefördert. Entsprechend werden uns im Hof aufwendige Stickereien, geschmackvolle Holzschnitzereien und Töpferwaren, mit Naturfarben gemalte Bilder im naiven Stil und Lederwaren präsentiert – eine tolle Gelegenheit zum Weihnachtseinkauf. Bei Einbruch der Dunkelheit kommen viele Bewohner aus der Nachbarschaft vorbei, um mit uns gemeinsam den ekstatischen Gesängen der Bauls zu lauschen und die von Trommeln begleiteten traditionellen Tänze der Santal-Frauen zu genießen.

 

Unsere letzte Station sind die Sundarbans im Golf von Bengalen, das größte Mangrovengebiet der Welt, die Heimat der Bengalischen Königstiger. Im Dorf Bali 9 auf einer Insel im gewaltigen Delta, die an das Tigerschutzgebiet angrenzt, waren wir bereits 2004 und 2008 (siehe indisches-tagebuch-04 und indien-2008/aus-kolkata). Da alle Zimmer im Camp belegt sind, kommen wir im Zelt unter. Ab und an kommen Bengalische Königstiger aus dem gegenüberliegenden Nationalpark in die Dörfer. Besonders Stefan fällt deshalb das Einschlafen recht schwer. Wir treffen alte Bekannte, einst notorische Wilderer, die nun engagierte Naturschützer sind, laufen durch das Dorf, das 2009 unter einem gewaltigen Zyklon gelitten hat und tuckern mit dem Boot durch die Mangrovenwälder, in denen der wilde Honig gesammelt wird, der auf unserem Frühstückstisch steht.

Hier münden alle Flüsse, denen wir in den vergangenen Wochen gefolgt sind, ins Meer. Hier endet nach fast 15 Wochen auch unsere Reise. Nach 49 fremden Betten freuen wir uns auf unser eigenes in Berlin. Dort wartet allerdings auch ein Berg Post und keiner, der für uns wäscht, einkauft, kocht und uns durch die Gegend fährt....

Euch allen wünschen wir einen guten Rutsch ins Jahr 2012!

Renate und Stefan