Ihr Lieben,
mittlerweile sind wir nach Indien zurückgekehrt, wo wir noch einige interessante Tage in Kolkata (früher: Calcutta) und den Sunderbans verbracht haben. Aus Bangladesh kommend werden wir von unseren Freunden in Kolkata gefragt, wie uns das Nachbarland gefallen hat, denn keiner von ihnen hat es je besucht. Dabei sind sie alle Bengalen – diesseits wie jenseits der Grenze – und haben eine ähnliche Kultur und Lebensart. Schließlich existiert diese Grenze erst seit 1947, als der überwiegend muslimische Landesteil als Ost-Pakistan vom restlichen Indien abgetrennt wurde.
Wie während der Teilung in Deutschland haben sich hier unter zwei Systemen auch Unterschiede herausgebildet. So fallen als erstes in Bangladesh die guten Straßen und zahllosen Rikschas ins Auge. Dieses ist definitiv das Rikschaland der Welt. Was nicht in eine Personenrikscha passt wird auf einer Lastenrikscha mit einer knapp bettgroßen Pritsche transportiert, und was nicht auf eine von diesen passt wird halt auf mehrere verstaut, das komplette Mobiliar samt seiner Bewohner ebenso wie Baustahl mit Überlänge. Eine der Lastenrikschas war optimal mit leeren Ölfässern beladen – wir haben sie gezählt, es waren vierundzwanzig! Allein in Dhaka soll es fast eine Million Rikschas geben. Als man versuchte ihre Zahl zu reduzieren, stieg die Kriminalitätsrate an, da viele Rikschafahrer keinen anderen Job finden. Derzeit allerdings boomt das Land dank der Textilindustrie, die wegen der niedrigeren Löhne für Arbeitskräfte von derzeit ca. 60 US$ pro Monat aus China nach Bangladesh abwandert.
Trotz der bequemen Busse ist es am Ende eine lange Fahrt: Am Morgen in einer Rikscha (wie sonst?) vom Hotel zum Busbahnhof, dann erneut 6 Stunden nach Chittagong und 4 weitere nach Cox´s Bazar, wo wir nach Einbruch der Dunkelheit ankommen. Am nächsten Morgen geht es früh weiter in einem kleinen Bus auf schmalen Straßen durch eine der schönsten und abwechslungsreichsten Landschaften zur Fähre nach Teknaf und dann mit einem Schiff den Fluss hinab immer an der burmesischen Grenze entlang und hinaus zur Insel.
Im Vergleich zu den Informationen im veralteten Lonely Planet, dem einzigen Reiseführer über Bangladesh, hat sich in den vergangenen Jahren die Transportsituation vom großen Badeort Cox´s Bazar auf die Insel erheblich verbessert. Zahlreiche Zubringerbusse transportieren über tausend Tagesausflügler zu drei großen Schiffen, die alle gegen 9 Uhr ablegen und 2 1/2 Stunden später einen Schwarm fröhlicher einheimischer Urlauber auf die Insel entlassen. Dort wird man erneut auf Lastenrikschas zu den langen Sandstränden gefahren – ein einträgliches Geschäft für einige der
7000 Einwohner. Die meisten leben allerdings noch vom Fischfang und Reisanbau.
Doch auch hier schwindet der Fischbestand, während die Quallen zunehmen. Tusher, unser ständiger Begleiter, stellt uns einen Lehrer vor, der ein engagierter Umweltschützer ist und beides auf den dramatischen Rückgang der Meeresschildkröten zurückführt, die auch hier vom Aussterben bedroht sind. Bereits jetzt sind durch die Aktivitäten an den Stränden viele Meeresschildkröten iritiert und brüten nicht mehr in ihren traditionellen Nistplätzen. Noch steckt der Tourismus in den Kinderschuhen, doch es ist bereits abzusehen, dass auf der schönsten Insel des Landes, das immerhin 160 Millionen Einwohner zählt, schon bald ein Tourismusboom einsetzen wird. Neben den Gästehäusern im Dorf gibt es bereits ein Dutzend Hotels an den Stränden. Die Grundstückspreise sind in den vergangenen Jahren enorm gestiegen, weil viele Leute aus Dhaka Land kaufen, um weitere Hotels zu bauen. Wäre es einmal möglich aus den Fehlern in anderen Ländern zu lernen?
Auf der Rückreise können wir uns endlich Cox´s Bazar bei Tageslicht ansehen, den endlosen, breiten Sandstrand mit einer Reihe von Liegestühlen, mit flanierenden Gruppen von Jugendlichen und einheimischen Familien, die sich selbst in Saris gekleidet in die Wellen stürzen. Noch ist viel Platz zwischen den Hotelblocks, doch die ganze Atmosphäre entspricht nicht den Vorstellungen eines westlichen Urlaubers von einem subtropischen Badeort.
Nach einem weiteren Tag in Dhaka, an dem wir uns das Nationalmuseum ansehen und auf den großen Märkten einkaufen gehen, werden wir von Milon und Tusher zum Nachtbus nach Kolkata gebracht. Es ist eine ganze Flotte von Bussen, die kurz vor Mitternacht Richtung Westen aufbricht. Irgendwann in der Nacht überqueren wir auf einer von zwei großen Fähren in einer halbstündigen Fahrt einen breiten Fluss. Auf der anderen Seite zähle ich allein 78 wartende Busse – ganz abgesehen von Lkws und anderen Fahrzeugen. Gegen 6 Uhr morgens ist die Endstation vor der Grenze erreicht, und Gepäck wie Passagiere werden für den letzten Kilometer bis zur Grenzabfertigung auf Lastenrikschas umgeladen. Vor den noch geschlossenen Büros stauen sich die Menschen. Als sich die Türen endlich öffnen werden wir Ausländer (außer uns noch eine Amerikanerin, die hier ein Praktikum macht) von einer Station zur anderen weitergerecht und bevorzugt behandelt. Trotz des Andrangs haben die Grenzer Zeit mit uns zu plaudern – in Bangladesh ebenso wie hinter dem Grenzzaun in Indien. Nach zwei Stunden haben wir es endlich geschafft und sitzen wieder in einem etwas schäbigeren, alten Bus, und was uns zuerst ins Auge fällt ist der Dreck auf den Straßen. Indien hat uns wieder.
Vor vier Jahren waren wir bereits einmal hier gut hundert Kilometer südlich von Kolkatta im Mündungsgebiet der großen Flüsse auf einer der Inseln am Rand des Tiger Schutzgebiets. Hier leben die Menschen unter extremen Umweltbedingungen im Schwemmland hinter hohen Deichen bedroht von Zyklonen und dem Wechsel der Gezeiten. Damals wurden wir bei unserem Abschied gefragt: Wann kommt ihr zurück? Nun sind wir wieder da, zusammen mit Asit unserem Freund von Help Tourism aus Kolkata. Im Gegensatz zur ersten Reise, bei der wir vor allem die Mangrovenlandschaft im weiten Flussdelta bestaunt und nach dem Bengalischen Königstiger Ausschau gehalten haben, sind wir nun daran interessiert, mehr über die Menschen und das Projekt von Help Tourism zu erfahren.
In einem Dorf, das für seine notorischen Wilderer bekannt war, hat Anil, einer der ehemaligen Jäger mit Unterstützung eines Lehrers eine völlige Neuorientierung in Richtung Umweltschutz bewirkt, und das Tourismusprojekt ist ein Teil davon. Das Camp mit sechs komfortabel eingerichteten traditionellen Lehmhäusern, die Touren und die Boote ermöglichen mittlerweile 30 Einheimischen ein regelmäßiges Einkommen. Zudem werden von hier aus viele Initiativen initiiert und von freiwilligen Fachkräften aus Kolkata wie von Gästen unterstützt.
Zweimal monatlich kommt aus Kolkata ein Arzt ins Dorf und behandelt etwa 200 Patienten. Seit 3 Jahren hat ein Bauer mit dem biologischen Anbau traditioneller Reissorten für die Campküche begonnen und bekommt dafür nicht nur mehr Geld sondern spart seither pro Jahr zudem etwa 60-80 Euro für Dünger und Pestizide. Mittlerweile haben sich ihm 10 Bauern angeschlossen und 30 weitere haben ihr Interesse bekundet. Aber bevor der Anbau mit Abnahmegarantie ausgeweitet werden kann muss der Absatz über eine Fair Trade-Organisation sichergestellt werden.
In einer kleinen Schule neben dem Camp werden kleine Kinder von Eltern unterrichtet, die sich den Schulbesuch nicht leisten können. Zudem können durch Stipendien jedes Jahr fünf Schüler weiterführende Schulen besuchen. Diesen Schülern wird auch die Aufgabe übertragen, Nachhilfeunterricht zu erteilen und Umweltprojekte zu organisieren. So gibt es in allen Schulen auf der Insel Nature Clubs, die eine kleine Baumschule neben dem Camp mit Samen von Mangrovenbäumen versorgen und bereits 50 000 Setzlinge gepflanzt haben.
Wir stellen fest, dass viele Kinder im Dorf mangelernährt sind und sprechen darüber mit zwei engagierten Frauen, die den Arzt bei der Arbeit unterstützen und Microkredite organisieren. Sie berichten uns über die Schwierigkeiten kinderreicher Familien und dass viele Kinder traditionell fast ausschließlich Reis essen, obwohl es Obstbäume im Dorf gibt. Wäre es nicht möglich, dass ebenso wie beim Naturschutzgedanken, die Kinder eine Veränderung der Essensgewohnheiten zugunsten einer ausgewogeneren Ernährung bewirken könnten? Wir haben eine Idee. Es kostet gerade einmal fünf Euro pro Woche, alle Kinder der kleinen Schule jeden zweiten Tag mit frischem einheimischem Obst zu versorgen, was mit Spenden von Gästen finanziert werden könnte. Anil und die Campküche sind bereit das Projekt in die Hand zu nehmen, und wir sorgen für eine Basisfinanzierung.
Bereits am nächsten Morgen begrüßt uns Asit: „Sie warten schon auf euch?“ „Wer?“ „Na, die Kinder – wir wollen gleich heute mit dem Obstprojekt beginnen. Die Küche hat schon einen Korb mit großen, roten Äpfeln bereitgestellt.“ Und so pilgert nach dem Frühstück eine kleine Prozession zur Schule, wo wir uns wie der Nikolaus vorkommen. Hopla, welch ein Zufall - heute ist Nikolaus! Draußen liegt allerdings kein Schnee. Es ist Erntezeit, und wir wandern mit einem einheimischen Bauern über Stoppelfelder, um uns seinen Bioreis anzusehen.
Mittlerweile sind wir zurück im Trubel der 16-Millionen Einwohner zählenden Metropole Kolkata und haben erfahren, dass der Flughafen in Bangkok wieder offen ist und wir morgen Richtung Osten weiterfliegen können. Bis wir uns wieder melden wünschen euch eine angenehme, stressfreie Vorweihnachtszeit.
Renate und Stefan