TRAVELSTORIES – Stefan & Renate Loose unterwegs

gesammelte Briefe 2004–2024

Unterwegs in Indiens Nordosten: Teil 1

Dooars

Dooars

Ihr Lieben,

in den vergangenen 16 Tagen habe ich vergeblich versucht euch meinen Bericht vom ersten Teil der Reise durch den Nordosten Indiens zu schicken und hoffe, dass euch dieser erste Teil und die Fortsetzung heute endlich erreichen werden.

Darjeeling und Assam – fast jeder kennt die beiden Teesorten, die nach ihren Herkunftsgebieten in Nordost-Indien benannt sind. Zwischen beiden erstreckt sich ein weiteres, weniger bekanntes Teeanbaugebiet: Dooars nahe Cooch Behar, das Ziel unserer ersten Tour. Gemeinsam mit unserem Freund Raj von Help Tourism fahren wir von Siliguri aus zu verschiedenen Nationalparks am Rand der östlichen Himalayas nahe der Grenze zu Bhutan. Die ehemaligen aldarbeiter, die im Umkreis des Chilapata Nationalparks Reis anbauen und Rinder züchten, sind arm und könnten einen zusätzlichen Verdienst gut gebrauchen. Daher versucht dort Help Tourismus eine sozialverträgliche touristische Infrastruktur aufzubauen. Sascha, ein Praktikant von der Fachhochschule für Tourismus in Eberswalde, ist unerwartet die Aufgabe zugefallen geeignete Wege für Mountainbike-Touren durch Teakwälder und die sie umgebenden Reisfelder und Teeplantagen zu erkunden. Ein einheimischer Guide soll sicherstellen, dass diese nicht Elefantenpfade kreuzen.

Kali-Puja

Unser Motto, dass in Indien immer etwas Unerwartetes passiert, trifft besonders auf diesen Trip zu. Nein, wir haben keine wilden Elefanten gesehen. Dafür haben wir in einem abgelegenen Dorf am größten religiösen Fest teilnehmen können, das im tantrisch geprägten Nordosten Indiens gefeiert wird: Kali Puja. Wenn das restliche Indien Diwali feiert und von der Göttin Lakshmi Wohlstand für das kommende Jahr erbittet, beschwört man in dieser finsteren Neumondnacht hier die schwarze Göttin Kali, die dunkle Seite.

Als wir gegen 20 Uhr eintreffen ist das Fest bereits im Gang. Groß und Klein haben sich vor dem Schrein eingefunden. Draußen ertönen die Trommeln. Junge Menschen mit Räucherwerk in Tontöpfen tanzen vor dem Schrein der Göttin. Frauen bringen Süßigkeiten und Früchte in das Inneren des kleinen Tempels, sitzen dicht gedrängt auf dem Zementboden vor dem Brahmanen, der die uralten Riten vollzieht. Er hat bereits den ganzen Tag gefastet und darf erst am Ende der Zeremonie gegen 4 Uhr morgens etwas zu sich nehmen. Bis nach Mitternacht dauern die Tänze und Gebete an. Am Ende werde ich zu den Frauen gebeten und darf eines der 108 Tonlämpchen anzünden, eine Ehre, nach der sich die verheirateten Frauen drängen. Dann wird vor dem Tempel der Platz für das Schlachtopfer vorbereitet. Als der Kopf des ersten Ziegenbocks rollt, stürmen die Menschen den Platz, tauchen ihre Finger in das Blut, um sich ein Tika, einen Punkt auf die Stirn, zu zeichnen. Der Kopf endet vor Kali, der restliche Körper im heimischen Kochtopf, wo er nicht mehr als Fleisch betrachtet als Gemüse zubereitet wird. Am nächsten Mittag haben auch wir das Vergnügen, das erste vegetarische Zicklein unseres Lebens zu essen, was übrigens hervorragend geschmeckt hat.

In dieser Nacht werden allein in diesem Dorf 40 Zicklein aus Dankbarkeit für in Erfüllung gegangene Wünsche zeremoniell geschlachtet. In Calcutta sollen es allein am Kali Ghat – abgesehen von den kleineren Tieren – 300-600 Büffel gewesen sein.

Sikkim

Unsere nächste Station ist Sikkim, der kleine Staat westlich von Bhutan in den Bergen. Unser Ziel ist Namthang, ein Dorf zwischen Namchi und Rangpo, in dem Buddhisten wie Hindus wohnen. Und wieder passiert etwas völlig Unerwartetes: Obwohl das Dorf wunderschön in den Bergen nur 22 bzw. 23 km von den beiden touristischen Orten Rangpo und Namchi entfernt liegt, sind wir die ersten westlichen Besucher. Selbst der älteste Einwohner konnte sich nicht daran erinnern schon mal einen Weißen im Dorf gesehen zu haben.

Raj und der Tourismus-Koordinator

Dass wir ausgerechnet in diesem Ort gelandet sind, haben wir wiederum Raj von Help Tourism zu verdanken. Eine Delegation aus dem Dorf ist auf ihn zugekommen und hat ihn gebeten Touristen zu schicken. Die Felder sind zu klein um alle Kinder zu ernähren. Auch die Jobs bei der Regierung sind nicht üppig gesät, und in die Stadt zu ziehen ist für viele junge Leute die letzte Alternative. Sie lieben ihr Dorf, das süße Wasser, die Berge und vor allem ihre Familien. Noch immer fühlen sie sich fest verwurzelt in überlieferten Strukturen, selbst wenn sie in den Städten eine Ausbildung abgeschlossen haben. Es sind vor allem diese gebildeten jungen Leute, die in ihrem Dorf etwas bewegen wollen. Zum angekündigten Gedankenaustausch haben sich über 20 Männer eingefunden. Selbst einige Sherpas sind aus den weiter entfernten Siedlungen jenseits des Tals gekommen. Rajs Ideen einer nachhaltigen touristischen Entwicklung finden große Zustimmung.

Entsprechend der Bedeutung unseres Besuchs werden wir auf Schritt und Tritt fotografiert und bereits seit der Grenze von einer Delegation des Dorfes begleitet. Unsere Gastgeber, die zu den buddhistischen Thamang gehören, empfangen uns mit Blumengirlanden, Liedern, landestypischen Snacks und einer Zeremonie, bei der wir ein mehrfarbiges Tika auf die Stirn bekommen.

Bruder - Schwester - Zeremonie

Nach einer recht abenteuerlichen Wanderung mit wunderschönen Aussichten geht es zu einer angesehenen hinduistischen Gurung-Familie, um den Bruder-Schwester-Tag, der als Teil der Festtage begangen wird, mit ihnen zu feiern. Der Tag endet nach dem Abendessen mit Gesängen und gemeinsamen Tänzen auf dem Marktplatz.

Auch der folgende Tag ist angefüllt mit Essenseinladungen und Ausflügen. Wir sind überwältigt von der Gastfreundschaft und Offenheit unserer Gastgeber und können ihnen nur viel Erfolg wünschen.

Wir sind bereits oft nach Geheimtipps gefragt worden. Diesen können wir bedenkenlos allen empfehlen, die in Sikkim einen ruhigen, angenehmen Ort abseits der Touristenpfade suchen, in dem man sich vom Trubel der Städte erholen kann. Am Grenzübergang in Rangpo bekommt man das Permit für Sikkim für 15 Tage, das verlängert werden kann. Von dort aus fahren Geländewagen-Taxis für 30 Rs pro Person nach Namthang. Sie halten am Marktplatz, wo man sich am besten nach einem Guesthouse erkundigt.

Siliguri

Zurück in Siliguri wohnen wir wie immer bei Raj und seiner Familie. Wir haben einen freien Tag, an dem ich gern mal wieder in einer Küche aktiv sein möchte. Wir beschließen, dass wir für die Familie deutsch kochen. Das ist gar nicht so einfach, denn zum einen brauchen wir die nötigen Zutaten und zum anderen eine entsprechende Küche.

Siliguri hat zwischen einer halben und einer Millionen Einwohner (so genau weiß es keiner) aber keinen Supermarkt. Dafür erklingt schon wenige Minuten nachdem wir den Entschluss gefasst haben von der Straße der Ruf „Sabziiiii“ – und ein Karren mit Gemüse steht vor der Tür.

Für die anderen Einkäufe begleitet mich Rajs Schwägerin Sanjukta. Raj möchte den Einkauf vom Schweinefleisch selbst tätigen. Dieses Fleisch wird nur von der unteren Kaste gegessen, und entsprechend sind die Bezugsquellen. Ich bestehe allerdings darauf mitzugehen und möchte mich über die Details nicht weiter auslassen. Letztendlich bleibt von dem durchaus frischen aber viel zu fetten Fleisch ein Drittel übrig. Statt des geplanten Cordon Bleu entscheide ich mich nach der Einkaufserfahrung die Fleischstücke vor dem Braten in Sojasauce, Knoblauch und Ingwer zu marinieren. Da nur einige Familienmitglieder Schweinefleisch essen, was daher auch separat zubereitet wird, wollen wir für die anderen außer der Suppe und einem Dessert Hähnchenschnitzel und zwei vegetarische Gerichte kochen. Hähnchen aber gibt es nur als Ganzes, und zwar lebend. Ein Assistent des Verkäufers greift in den Korb, packt den Hahn auf die Wage, schlachtet ihn blitzschnell vor unseren Augen und schneidet ihn uns nach Wunsch zu. Dem Hahn fehlt allerdings die üppige Brust, so dass ich auch diesmal umdisponieren muss.


Da indische Küchen keinen Backofen haben entscheiden wir uns schließlich in der Schule zu kochen, in der die Schwiegermutter von Raj und seine Schwägerin leben, denn dort gibt es einen Ofen. Letztendlich entpuppt sich der Ofen als Mikrowellenherd, so dass wir die Gerichte etwas abwandeln müssen. Eine zusätzliche Herausforderung ergibt sich dadurch, dass kurz nach dem Einschalten der Mikrowelle die Stromversorgung wegen Überlastung zusammenbricht. Deshalb müssen wir in dieser Zeit alle anderen nicht notwendigen Elektrogeräte vom Netz nehmen. Dennoch rühren wir am Herd immer mal wieder im Dunkeln.

Eine weitere Herausforderung ist die Anzahl der Gäste. Am Morgen meinte Raj noch – nur wir! Das sind acht Personen aus denen letztendlich zwölf werden. Vorsorglich haben wir die Portionen reichlich bemessen und Rajes Frau Abhaya hat als Backup am Morgen bereits indisch gekocht. Sie ist skeptisch, ob ihre Mutter dieses exotische Essen überhaupt anrührt. Am Ende haben alle reichlich zugelangt, die Schwiegermutter erkundigt sich, ob ihre Tochter auch gut aufgepasst hat und weiss wie man das alles kocht und das indische Essen bleibt im Kühlschrank für morgen. Doch da sind wir bereits wieder unterwegs – im Zug nach Dibrugarh. Doch das ist eine neue Geschichte.

Da die derzeitigen Internetverbindungen nur sehr provisorisch sind hoffen wir, dass euch unsere Grüße und besten Wünsche für alle auch aus diesem Teil der Welt am Brahmaputra erreichen.

Alles Liebe von

Renate und Stefan

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