Ihr Lieben,
wenn viel passiert bleibt einfach keine Zeit zu schreiben. Deshalb beginne ich nun fast am Ende unserer Reise durch den Nordosten in Miao. Ihr müsst schon eine sehr gute Karte haben, um diesen Ort zu finden. Dabei ist er ein wichtiges Handelszentrum. Wer hierher zum Einkaufen kommt hat normalerweise einen weiten Weg hinter sich – zumeist zu Fuß, denn Busse verkehren nur Richtung Dibrugarh, dem Verwaltungszentrum im Nachbarstaat Assam. In die andere Richtung fahren vereinzelt Jeeps auf einer unbefestigten Straße bis zum Kontrollposten des Namdapha Nationalparks und nach einer Registrierung mit Genehmingung auch ein paar Kilometer weiter am Hang der von dichtem Dschungel bedeckten Patkai Range entlang. Doch dann wird bereits seit Jahren der Weg von einem Erdrutsch versperrt, der nur auf einem abenteuerlichen Pfad zu Fuß überquert werden kann. Von hier sind es weitere 8-9 Tage Fußmarsch bis ins letzte Lisu-Dorf Vijanagar an der Grenze zu Myanmar.
Vor dem Kontrollposten im Tal liegt M´pen 1 und noch weiter talaufwärts kurz vor dem Erdrutsch M´pen 2, eine Siedlung der Chakma, in der wir eine Schule bauen wollen. Über dieses Projekt gibt es viel zu erzählen, sodass ich euch lieber in einer separaten Mail darüber berichte.
Nun möchte ich doch von vorn beginnen, obwohl es mir gerade schwer fällt mich zu konzentrieren. Es ist 7 Uhr morgens, ein kühler Wind weht von den Bergen herab und durch die offene Tür. Diese zu schließen macht keinen Sinn, denn auch die Fenster stehen offen. Zumindest haben wir nach vielen Tagen zum ersten Mal wieder Strom und von einem störrischen Boiler manchmal sogar Warmwasser. Zudem gibt es heißen Tee zubereitet von mindestens fünf jungen, freundlichen Singpho-Männern, die hier im ehemaligen Bungalow der Forstbehörde arbeiten, der nun von der lokalen NGO SEACOW (Society for Environment Awareness and Conservation of Wildlife) betrieben wird. Zwei von ihnen versuchen gerade vergeblich diese Mail zu lesen und verschwinden nun wieder Richtung Küche, aus der es bereits appetitlich nach Chapatis und Chilies duftet.
Wer unsere Mails der letztjährigen Indienreise gelesen haben sollte, wird sich vielleicht an Arunachal erinnern, eine wilde, abgelegene Gegend im äußersten Nordosten, begrenzt von China und Myanmar, den östlichen Ausläufern des Himalayas, den Mishmi Hills und der Patkai Range (benannt nach den Hähnen, die hier als Schlachtopfer dargebracht wurden), besiedelt von überwiegend animistischen Stämmen, die aus dem südlichen China, Myanmar und dem Hochland von Bangladesh eingewandert sind.
Diese Reise ist wegen der notwendigen Genehmigungen und fehlenden touristischen Infrastruktur nicht individuell durchführbar. Wir brauchen nicht nur Guides sondern auch Jeeps und eine eigene Verpflegungscrew sowie viele Kontakte vor Ort. Zahlreiche Mitarbeiter von Help Tourism, die konsequent umwelt- und sozialverträgliche Tourismusprojekte im Nordosten auf die Beine stellen, organisieren alles. Raj, die gute Seele der Firma, wird uns begleiten, worüber wir uns sehr freuen, denn er kann uns, wie kaum ein anderer, Zusammenhänge vermitteln.
Bereits in Siliguri stoßen Donald und Marina, zwei Freunde aus Kuching (Malaysia), zu uns, die gerade in Nepal den Everest Trek gemacht haben und nun mit uns nach Arunachal reisen wollen. Sylvia und Helmut, zwei weitere Mitreisende aus Berlin, die sich nach einem Bilderabend bei AER Reisen spontan entschlossen haben mitzukommen, sollen in Guwahati in unseren Zug zusteigen. Wegen des auf die Bombenattentate folgenden Generalstreiks haben wir in den vergangenen Tagen nichts von ihnen gehört und hoffen nur, dass sie rechtzeitig am Bahnhof sein können.
Nach sieben Stunden fährt unser Zug am Abend auf Gleis 1 ein – von Sylvia und Helmut keine Spur! Da der Zug eine halbe Stunde Aufenthalt hat begeben sich Raj und Stefan auf die Suche. Plötzlich geht ein Ruck durch den Zug, und er fährt ab. Die erste Aufregung legt sich aber bald, da wir schnell in Erfahrung bringen können, dass unser Teil des Zuges nur auf Gleis 3 verschoben wird, wo auch Sylvia und Helmut ganz gemütlich auf einer Bank sitzend auf uns warten. Wo aber bleiben Raj und Stefan? Plötzlich höre ich Stefans Stimme durch die Bahnhofslautsprecher: „Hallo Sylvia und Helmut. Bitte kommt unbedingt sofort in den ersten Wagen unseres Zuges, der auf Gleis 1 wartet.“ – Das darf nicht wahr sein. Raj und Stefan wissen nicht, dass unser Zug nun auf einem anderen Gleis steht, und es sind nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt. Unsere Handys funktionieren nicht mehr, sodass ich einen Mitreisenden bitte Rajs Nummer anzurufen. Gottseidank können wir so gerade noch rechtzeitig die Beiden erreichen, die zwischenzeitlich alle Wartehallen des Bahnhofs abgesucht haben und nun fast in letzter Minute auf den Zug aufspringen.
Da für den Tag unserer Anreise ab 6 Uhr morgens wieder ein 24-stündiger Generalstreik in Assam ausgerufen worden ist, ändert sich unser Plan. Wir verlassen bereits kurz nach 4 Uhr den Zug und fahren für einen Tag in ein abgelegenes Camp am Ufer des Dibru River. Die Fischer am Ufer und die aus Nepal stammenden Büffelhirten auf der Insel scheren sich wenig um den Streik, und so geht hier das Leben seinen gewohnten Gang. Wir überwinden unsere Müdigkeit und werden dafür mehr als belohnt, als wir bei einem Ausflug in ein nahes Naturschutzgebiet eine Hoolock-Gibbonfamilie und abends bei einer Sunset-Bootstour Brahmapurta-Delfine beobachten können.
Mit einem Tag Verspätung geht es nun über die Grenze nach Arunachal und hinauf in die Mishmi Hills zu den Idu Mishmi. Vom Mayodia Pass aus erblicken wir die Schneeberge, die wir auf unserer Tibettour bereits von der anderen Seite aus gesehen haben. Help Tourism hat auf einem Hochplateau mit traumhafter Aussicht auf die Tiefebene in Zusammenarbeit mit den Mishmi das erste Resort der ganzen Gegend errichtet. Von den 4 Zimmern des Debang Valley Jungle Camps sind allerdings erst 3 richtig fertig, und auch das Restaurant ist noch in Arbeit. Heißwasser wird auf einem offenen Feuer zubereitet, und Petroleumlampen spenden uns Licht.
Es ist der 5.11. und es interessiert uns natürlich brennend, wie die Wahlen am anderen Ende der Welt ausgegangen sind. Nach vielen Versuchen schafft es Raj auf seinem internetfähigen Laptop eine Seite aufzurufen, auf der ein erdrutschartiger Sieg Obamas verkündet wird. Dann bricht die Verbindung zusammen, und für die nächsten zehn Tage wird dieses unsere einzige Information über dieses historische Ereignis bleiben. Die Frauen aus dem Dorf haben für uns gekocht, und nachdem wir bereits vor dem Essen auf die Neuigkeiten aus den USA eine Flasche Fireball-Brandy aus Sikkim geleert haben, gibt es nun noch Mishmi Jhul, einen lokalen Reiswein. Es wird eine lange Nacht.
Eines der Highlights unserer letztjährigen Reise war der Aufenthalt in diesem einfachen Zelt-Camp, das zwischen zwei Fähren an einem etwas erhöhten Platz am Lohit River liegt. Die unglaublich wilde Natur und die fantastische Rundumbetreuung des Teams sowie die Kultur der Khamtis ziehen uns erneut in ihren Bann. Wir sind die ersten Gäste, die in dieser Saison hier campen. Deshalb kommt am Abend der Schamane vorbei, um in einer halbstündigen Zeremonie unter dem höchsten Baum die negativen Kräfte in ihre Grenzen zu weisen, die Schaden anrichten könnten.
Wieder reiten wir auf Arbeitselefanten zum reißenden, klaren Bergfluss und fahren mit einem Boot nach einer Picknick- und Badepause auf einer Insel zurück zum Camp. Beim Besuch des Wochenmarkts drehen sich alle Köpfe nach uns um. Hier hat man bislang noch nie einen Weißen gesehen. Wir statten dem Minister einen Besuch ab, der bereits gut über unsere Aktivitäten informiert ist und gehört hat, dass in unserer Gruppe eine Mishmi-Frau mitreist. Damit kann nur Marina, unsere chinesische Freundin aus Kuching gemeint sein, die nach ihrer Everest-Tour gut gebräunt und aufgrund ihrer kleinen Statur wirklich wie eine Mishmi aussieht.
Nach 3 Tagen sind wir geübt im Umgang mit Fähren, die je nach Wasserstand ihren Standort wechseln, und Brücken, die Jahr für Jahr neu errichtet werden müssen und einfach nur einen provisorischen Charakter haben können. Nach einem Schlenker über Pashuram Kundh, dem mythologischen Ursprungsort des Brahmaputra, und Wakro, einer Mishmi-Siedlung inmitten von Orangenplantagen, geht es auf einer wunderschönen, schmalen, kaum befahrenen Straße am Berghang entlang durch Reisfelder, Bambuswälder und dschungelbedeckte Täler Richtung Namdapha Nationalpark an der Grenze zu Myanmar. In einem der Täler überrascht uns ein ganzer Schwarm seltener Nashornvögel.
Es dunkelt bereits, als wir im Dorf Deban ankommen, wo die Straße endet. Unsere Jeeps müssen nun einen sechsstündigen Umweg fahren, während wir auf Elefanten umsteigen, die uns durch den reißenden Fluss zum Park Hauptquartier am anderen Ufer bringen, wo wir die Nacht bleiben werden. Es ist ein traumhaft schöner Platz. Abends weht ein ständiger Wind von den hohen Bergen durch das Tal, und in der Ferne erschallt das Rufen der Gibbons.
Am nächsten Morgen werden die Elefanten erneut gesattelt. Da sie den Erdrutsch nicht überqueren können müssen sie vorher durch den Dschungel den steilen Hang hinabsteigen. Es erfordert viel Erfahrung und Training derartige Wege zu bewältigen ohne dass jemand im abgeknickten Bambus hängen bleibt, sich den Arm an den scharfen Stacheln des Rotan aufreißt oder den Kopf an einem der niedrigen Äste aufschlägt. Nach zwei Stunden ist der untere Kontrollposten des Nationalparks erreicht, wo wir dankbar in die weitaus bequemeren Jeeps umsteigen. Mit diesen geht es sofort weiter nach M´pen 2, wo wir bereits erwartet werden.
Da viele, die sich an unserer Spendenaktion für die Schule in M´pen 2 beteiligt haben, ein großes Interesse an einem etwas detaillierteren Bericht unserem Besuch im Dorf haben, möchte ich ihm eine eigene Mail widmen. Deshalb schließe ich für heute diesen Bericht ab und verspreche die kleine Lücke zwischen dem Namdapha Nationalpark und Miao so schnell wie möglich zu füllen.
Es ist Sonntag, und wir wohnen mittlerweile in der Nähe von Shillong an einem wunderschönen See in über tausend Metern Höhe. Gleich fahren wir in die Stadt und hoffen ein Internet Café zu finden, das auch am Sonntag geöffnet ist, denn danach geht es gleich wieder aufs Land. Wir können uns kaum vorstellen, dass nun das Wetter in Deutschland wahrscheinlich recht grau und trübe ist und hoffen, dass es euch trotzdem gut geht.
Grüßt bitte auch alle, die uns kennen aber kein Internet haben. Euch allen wünschen wir noch einen schönen Sonntag und hoffen bald mal wieder von euch zu hören.
Renate und Stefan
.... und hier noch ein paar Bilder aus dieser entlegenen Gegend.
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