Ihr Lieben,
schon wieder Indien?! - Ja, es lässt uns einfach nicht los, und so haben wir uns nach ein paar Tagen in Thailand kopfüber in den Trubel der gigantischen Metropole Kolkata gestürzt - die indische Feuertaufe sozusagen - und sind dann hinauf in die zerklüftete Bergwelt des Himalaya vorbei an schneebedeckten, 6000 m hohen Gipfeln bis fast an die chinesische Grenze gefahren.
Aus dem 8. Stock unseres Hotels blicke ich hinab. Auf dem Bürgersteig schläft ein Mann. Passanten laufen achtlos um ihn herum. Er ist nicht mehr als ein weiteres Hindernis - Alltag in der Stadt. Das letzte verbliebene Grün, selbst der winzigste Park, ist eingezäunt und wird nachts verschlossen, sonst wäre er schnell bebaut oder von Obdachlosen besiedelt. Auf den Strassen Schlangen gelber, klappriger Ambassador-Taxis, quitschender Strassenbahnen und alter Busse mit Holzaufbauten, ein Wunder an fahrenden Wracks. Wir laufen durch die Werkstätten und Wohnstuben der Obdachlosen, ihre Küchen, Bade- und Schlafzimmer - Privatsphäre existiert nicht. In einem Lastkarren liegt ein in dünne Tücher gewickelter Mann. Er hat Schweissperlen auf der Stirn, er lebt noch. Manchmal tut es weh hinzusehen, aber es macht auch keinen Sinn wegzuschauen, wenn sich die Realität des menschlichen Daseins in seiner ganzen Bandbreite präsentiert.
Schließlich gibt es auf der anderen Seite auch die Schönheit, die das Elend balanciert: Die Frauen in ihren farbenprächtigen, makellosen Saris, die durch die Strassen zu schweben scheinen, die ausgelassene Freude eines nächtlichen Strassenfestes, bei dem Jungs auf Pferden wie Prinzen gekleidet begleitet von Musikern und tanzenden Transvestiten sowie ihren Familien durch die Strassen ziehen. Überall Menschen, die arbeiten, reden, herumsitzen, leben. Kein Fleck, an dem das Auge zur Ruhe kommt, ein Mosaik an Gerüchen und Geräuschen.
Manchmal brauchen wir eine Pause und ziehen uns zurück in einen Buchladen, den es seit 1880 gibt, ein stilvolles Cafe oder den Biergarten des Fairlawn, in dem mürrische Kellner seit Jahrzehnten den Bierdurst westlicher Besucher stillen. Wir essen an Ständen, wo es für wenige Cent frisch ausgebackene, scharfe Bällchen aus Kichererbsenmehl gibt und in Restaurants, wo wir für ein hervorragendes bengalisches Abendessen das Monatseinkommen eines einfachen Arbeiters hinlegen.
Flieger machen es möglich, dass wir bereits nach einer guten Stunde in den Armen von unserem Freund Raj in Bagdogra, dem Airport von Siliguri, landen. Er hat alle erforderlichen Vorbereitungen getroffen, sodass wir nach einem kurzen Besuch bei seiner Familie gleich weiter Richtung Norden fahren können. An der Grenze zu Sikkim erhalten wir das erste Permit, das für den Besuch des ehemaligen Königreichs im Himalaya, nun ein indisches Bundesland, erforderlich ist. Für den Norden brauchen wir dann ein weiteres Protected Area Permit, das wir über Beziehungen nach einem halben Tag im Verwaltungszentrum Gangtok erhalten, obwohl Feiertag ist. Diese Zeit nutzen wir und schauen uns eine hervorragende Ausstellung an, die von der tibetischen Bevölkerung organisiert wurde als Dank für die 50-jährige Gastfreundschaft, die Indien den Flüchtlingen gewährt hat.
Bis ins 102 km entfernte Lachen im hohen Norden brauchen wir mit dem Jeep insgesamt 7 Stunden. Manchmal gleicht die Straße einem Steinbruch, manchmal ist sie überschwemmt. Aufregend sind die Fahrten entlang steiler Abhänge. Gewaltige Wasserfälle stürzen hinab in den turbulenten Teesta River. Mehrere Staudammprojekte erfordern eine Erweiterung der schmalen Straße, und so ist Geduld gefragt, als wir uns nach einer Sprengung in einen langen Stau eingliedern. Die ersten Fahrzeuge warten bereits seit 5 Stunden, nichts Ungewöhnliches auf dieser Strecke, und so bleiben die Fahrer wie Passanten gelassen und guten Mutes. Wir haben Glück und haben bereits nach einer Stunde die Baustelle und den Stau hinter uns gelassen.
Es ist kalt, kaum 5 Grad Zimmertemperatur. Wir sind bereits 2700 m hoch. Aber wir fahren noch weitere 35 km nach Thangu, dem letzten für Ausländer zugänglichen Ort nahe der chinesischen Grenze in 4300 m Höhe. Überall wehen bunte Gebetsfahnen, oberhalb der Baumgrenze tosen Wasserfälle, gurgeln und plätschern türkisblaue Bergbäche. Frischer Schnee auf hohen Gipfeln kündigt den herannahenden Winter an. Die Yakherden grasen noch auf dem für uns wegen seiner Grenznähe unzugänglichen Hochplateau und kommen erst in 2 Wochen herab ins Tal. Bei einem späteren Treffen mit dem Rat des Dorfes besprechen wir neue Tourismusprojekte. Großen Anklang findet eine Idee, das Tal, in dem Yakrennen stattfinden und wo im Winter die Herden grasen, auch für Ausländer zu öffnen. Vom Ende der befahrbaren Straße aus sind es nur 3 km, und man könnte sogar auf Maultieren hinaufreiten.
Der Dorfchef beschließt spontan am nächsten Morgen das überfällige Butterfest stattfinden zu lassen. Nachdem am frühen Morgen der dreimalige Ruf eines Ausrufers durch das Dorf erschallt ist, versammeln sich innerhalb einer Stunde Vertreter aller 203 Familien des Dorfes mit einem Kilo Butter als Opfer für das buddhistische Kloster. Die Butter von Yaks, Kühen und Zhu (Kreuzungen zwischen Rind und Yak) ist in Schaffelle eingenäht oder in Plastikcontainer verpackt. Sie wird umständlich abgewogen, gewaschen und gemischt. Derweil gibt es zum Aufwärmen Buttertee (besser: Teebutter). Hinter dem Haus wird ein ganzes Rind fürs Mittagessen zerlegt. Bevor das Essen fertig ist, machen wir uns davon ins benachbarte Tal nach Lachung. Der touristisch bereits weiter entwickelte Ort ist umgeben von alpinen Wiesen und hat einen völlig anderen Charakter. Stefan leidet unter Höhenkrankheit und wir beschliessen nicht weiter hinauf zu fahren.
Am Zusammenfluss des Lachen und Lachung entsteht der Teesta. Der erste Ort am seinem Ufer ist Mangan, wo das von üppigem Grün bedeckte Dzongu-Tal abgeht, das von Lepcha bewohnt wird, den ursprünglichen Bewohnern dieser Himalaya-Region. Da es nur noch 600-700 Lepcha-Familien gibt, stehen sie unter besonderem staatlichem Schutz. So benötigen wir ein weiteres Permit, um sie zu besuchen. Wir sprechen persönlich beim District Collector vor, dem Chef der Region, der unsere Bitte erfüllt, aber gleichzeitig ein Meeting mit allen im Tourismus Tätigen für den Nachmittag ansetzt. Bei diesem Treffen erfahren wir viel über das touristische Potential der Gegend und versuchen gemeinsam mit Raj die bürokratischen Hindernisse zu beseitigen. Wenn man auch ohne Permits diese Gegend bereisen könnte, wäre sie eine traumhafte Destination zum Bergsteigen und Klettern ebenso wie zum Trekken in abgelegene Dörfer, zu heissen Quellen und Hochtälern, auf denen Yakherden grasen ... Mal sehen, wie es hier in zwei Jahren aussieht.
Wir sind mittlerweile im wolkenverhangenen Darjeeling eingetroffen und genießen die Errungenschaften eines entwickelten Ortes mit Internet, Buchläden, Geschäften und einem Zimmer mit Kaminfeuer bei ähnlichen Temperaturen wie in Deutschland.
Seid herzlich gegrüßt von
Renate und Stefan