TRAVELSTORIES – Stefan & Renate Loose unterwegs

gesammelte Briefe 2004–2024

Unterwegs in Indien - 2. Teil: Südindien

Ihr Lieben,

nun haben wir zum zweiten Mal unsere Abreise aus Fort Cochin verschoben - und darüber herrscht bei uns keinerlei Bedauern. Schließlich gibt nur wenige indische Städte, die so angenehm ruhig und entspannend sind, mit guter Luft, vielen Buchläden, Cafés, Aryurveda-Angeboten und anderen touristischen Annehmlichkeiten.

 

Touristen in Fort Cochin

Das mit der Ruhe muss ich allerdings etwas einschränken, denn in den letzten beiden Tagen sind über tausend Passagiere vom deutschen Kreuzfahrtschiff Aida durch die Gassen des alten katholischen Fort Cochin gestreift, wo wir wohnen.

Ausnahmezustand herrschte zudem auf dem Gewürzmarkt weiter im Süden nahe dem Hafen, wo seit Jahrhunderten die Gewürze aus dem Hinterland verschifft werden, und dem ehemaligen jüdischen Viertel, dessen frühere Bewohner fast alle nach Israel ausgewandert sind. Es ist mittlerweile von muslimischen Händlern aus Kashmir übernommen worden, auf die gerade ein Goldregen niedergeht, denn kaum einer der Passagiere der Aida kennt die lokalen Preise. Wir kommen mit zwei Deutschen vom Schiff ins Gespräch, die uns fragen, was wir bei unserer Reise über Land eigentlich mit unserem Gepäck machen...

Auch die anderen Touristen in Cochin bewegen sich kaum außerhalb der schmalen, ausgetretenen Touristenpfade, die durch ein Indien führen, das kaum etwas mit der Realität im restlichen Land zu tun hat. Hier werden Klischees vermarktet: Die Reisebüros offerieren Ausflüge zu Elefanten, Teeplantagen und romantische Bootstouren in die Backwaters, Läden quellen über mit unechten Pashmina- und Seidenschals, bunten Kleidern im Hippiestil und exotischen Staubfängern, die sich kein Inder in die Wohnung stellen würde. Stattdessen schmücken die Zimmer unserer Gastgeber gerahmte Herz-Jesus-Bilder und von Kerzen und Öllämpchen umrahmte Madonnastatuen, die sich kein Deutscher ins Wohnzimmer stellen würde.

Wir übernachten in einem der wenige legalen von insgesamt 120 Gästehäusern in Cochin bei Mr. Walton, einem absoluten Original. In seinem Büro stapeln sich Reiseführer, Romane und philosophische Werke. Neben einer christlichen Ikone hängt ein Bild von Krishna, denn er ist ein überzeugter Katholik, der an die Reinkarnation glaubt. Er umsorgt seine Gäste und macht vieles möglich.

 

Kathakali im Vorstadttheater

Ihm verdanken wir es, dass wir eine echte Kathakali-Aufführung sehen konnten. Bereits vor 8 Jahren, als wir zum ersten Mal in Cochin waren, haben wir uns hier im Theater eine Aufführung angesehen, eine für Touristen aufgearbeitete Kurzversion des traditionellen Tanztheaters mit ausschließlich männlichen Darstellern in bunten Kostümen, deren Gesichter kunstvoll bemalt werden. Nun also das echte Kathakali eine Stunde abseits der Touristenpfade.

In einer Art Lagerhalle liegen und hocken die Darsteller auf Bambusmatten auf dem Zementboden beim Licht einer Glühbirne und beginnen bereits am Nachmittag, 3 Stunden vor Beginn der Aufführung, mit dem Auftragen der Schminke. Als der Strom ausfällt muss eine Öllampe ausreichen, bis nach einer halben Stunde ein Generator herbeigeschafft ist. Dieser erweist sich auch während der Ausführung als überaus nützlich, da noch zweimal alles in Dunkelheit versinkt. 

Zuschauer kommen und gehen - sie kennen das Stück. Es handelt sich um eine Episode aus dem dreitausend Jahre alten Ramayana-Epos. Die Texte werden von 2 Männern gesungen und von Trommeln, Zimbeln und anderen Schlaginstrumenten lautstark begleitet. Die Darsteller tanzen mit Händen und Füssen ebenso wie mit ihrer Mimik und den Augen, jede Geste hat eine überlieferte Bedeutung, die uns verschlossen bleibt. In der Festsaison finden die Aufführungen in Tempeln statt und dauern 3 Tage von Sonnenuntergang bis zum frühen Morgen. Aber im Zeitalter moderner Medien hat man sich angepasst und zeigt einmal im Monat eine kurze, dreistündige Episode. Ein kleines Ereignis, eine Gefühlswandlung wird in allen Details ausgespielt, und es ist kaum zu glauben, dass wir nicht in einem großen Theatersaal sondern im Schuppen eines Theatervereins sitzen.

 

Von Hampi nach Cochin

Aber genug davon. Für alle, die unsere Reiseroute interessiert: In Hampi haben wir uns von den Ruinen vergangener Reiche auf dem Deccan verabschiedet und sind in einem gut gefüllten Zug in 6 Stunden hinab an die Küste nach Goa gefahren. Dort hat es uns wieder an unseren alt bekannten Strand nach Benaulim verschlagen, obwohl wir - wie schon Jahre zuvor - eigentlich nach Gorkana wollten. Dieses Jahr haben wir es endlich geschafft. Allerdings schien unsere Ankunft unter keinem guten Stern zu stehen: Es schüttet wie aus Eimern, durch die schlammigen Straßen strömen durchnässte Pilgerscharen, alles wirkt schäbig und schmutzig. Am Om Beach, wo wir ein muffiges, überteuertes Zimmer finden, ist das einzige Restaurant überfüllt und nimmt keine Bestellungen mehr an. Es ist Feiertag, und viele Einheimische haben einen Ausflug an den Strand gemacht, der seit einigen Jahren durch eine schmale Asphaltstraße seine idyllische Ruhe eingebüßt hat.

Wir geben Gorkana eine zweite Chance und entdecken in den folgenden Tagen bei unseren Wanderungen entlang der abwechslungsreichen Küste bei wechselndem Wetter auch die schönen Seiten. Sogar der kleine Ort hat es uns am Ende angetan.

Danach als Kontrastprogramm Mangalore, die größte Hafenstadt im Staat Karnataka. Auch hier gibt es mittlerweile ein großes, neues Einkaufszentrum mit Rolltreppen. Jede wird von einem Wachmann beaufsichtigt, denn es bilden sich immer wieder Staus, weil die Kunden noch nie eine Rolltreppe betreten haben und sich nicht trauen, den ersten Schritt zu tun. Wer es bis ganz hinauf geschafft hat, erreicht einem riesigen Spar-Supermarkt, wo es sogar Ritter Sport-Schokolade gibt. 

Ja, und am folgenden Tag geht es mit dem Nachtzug nach Cochin bzw. zum Bahnhof in Ernaculam, wo wir morgens um 4 Uhr eintreffen. Da heißt es am Bahnsteig erstmal: munter werden, abwarten und Tee trinken. Dann bewegen wir uns an Schlafenden vorbei zum Ausgang und nehmen eine Autorikscha zur Fähre. Nach einer Fahrt durch menschenleere Straßen (für Indien überaus ungewöhnlich) hält der Fahrer in einer einsamen, unbeleuchteten Gegend und zeigt auf ein Hinweisschild: Fähre! Wir steigen aus und laufen beim Schein unserer Taschenlampe auf einem unbefestigten Fußweg voller Pfützen auf ein Licht zu, das sich als ein weiterer Teestand entpuppt. Dort erfahren wir bei unserem zweiten Tee, dass die Wartehalle erst in einer halben Stunde öffnet und die erste Fähre erst in einer Stunde geht. So bleibt uns viel Zeit unser Umfeld (soweit erkennbar) zu beobachten, wie eine Ratte, die nicht weit von unseren Füßen immer wieder vorbeihuscht. Schließlich erreichen wir bei Sonnenaufgang unser Gästehaus und sind glücklich darüber, dass uns Mr. Walton gleich ein Bett zur Verfügung stellt.

 

Wie Elefanten den Heiligen Georg ehren

Nun möchte ich euch endlich darüber aufklären, warum wir unsere Abreise verschoben haben. Noch immer gehen ab und zu heftige Regenfälle nieder und überschwemmen das Land. Das können wir weit besser in der Stadt als am Strand ertragen. Also haben wir unsere Abreise etwas hinausgeschoben. Als wir heute bei Mr. Walton unsere Rechnung bezahlen und uns verabschieden entdecken wir, dass morgen bei Thrissur, 80 km nördlich von hier, das syrisch-orthodoxe Fest zu Ehren des heiligen Georgs mit festlich geschmückten Elefanten stattfindet - eine Art Kirchweihfest. Da wir ursprünglich Richtung Süden fahren wollten, ändern wir kurzerhand unsere Pläne und ziehen wieder ein.

Wir haben ein Auto gechartert, mit dem wir erst einmal nach Thrissur fahren, wo wir uns noch ein paar Kirchen anschauen wollen. Dort sagt man uns: "Es gibt kein Elefantenfest, das findet erst im April statt." Ja, in Thrissur, aber wir wollen in einen anderen Ort noch 25 km weiter. Etwas verunsichert machen wir uns auf den Weg und sehen nach einer Stunde wirklich 5 festlich geschmückte Elefanten die Straße entlanglaufen. Wir steigen aus und folgen ihnen, den Musikern und gut angeheiterten Männern durch das Dorf zur etwa einen Kilometer entfernten Kirche. An der nächsten Kreuzung kommt von rechts ein weiterer Zug mit 3 Elefanten auf uns zu, und in der Ferne hören wir bereits die Trommeln von weiteren Musikern. In allen Vorgärten stehen festlich gekleidete Frauen, Kinder und alte Leute, um das Geschehen zu betrachten. Wir selbst werden zu einer kleinen Sensation, denn Touristen kommen anscheinend selten vorbei. Je näher wir dem Festplatz kommen, umso dichter wird die Menge und umso lauter die Musik zahlreicher Trommler und Bläser, die sich gegenseitig zu übertönen versuchen. Es ist erstaunlich, wie ruhig dabei die Elefanten bleiben, auf deren Rücken zudem junge Männer sitzen, die riesige Bilder des Heiligen, Schirme und Kreuze tragen, mit Konfetti um sich werfen oder nur ausgelassen auf- und abhüpfen.

Beim ersten Blick auf den Festplatz stockt uns der Atem: Inmitten tausender Männer stehen aufgereiht vor der Kirche mindestens 30 festlich geschmückte Elefanten, und von allen Seiten kommen weitere hinzu. Die Dächer und Balkone der umliegenden Häuser sind von bunt gekleideten Frauen in Beschlag genommen worden, und auf einer Terrasse über der Kirche haben sich die orthodoxen Priester versammelt.

Als weiße Touristin wird mir gleich ein Platz auf einem gut besetzten Balkon mit toller Aussicht angeboten, und ich bin doch etwas froh darüber, etwas Distanz zu den ausgelassenen Männergruppen zu haben. Nach einer Stunde ist der Platz voll, und wir zählen 48 Elefanten! Einer nach dem anderen tritt nun vor die Kirche, um sich vor dem heiligen Georg zu verbeugen. Nachdem alle ihren Knicks gemacht haben, marschieren sie davon und werden bei Einbruch der Dunkelheit unten an der Hauptstraße in die wartenden Lastwagen verladen, die sie wieder zu den Camps und Hindutempeln bringen, die sie ansonsten bewohnen.

Heute sind wir nun an der letzten Station unserer ersten Tour durch Indien in Varkala eingetroffen, von wo aus wir nach Sri Lanka fliegen werden. Vor 35 Jahren war dieses das Land meiner Träume, und manche Träume brauchen lange, bis sie endlich wahr werden. 

Seid herzlich gegrüßt von -- oder wie Mr. Walton immer sagt: Om Shanti -

Renate und Stefan