TRAVELSTORIES – Stefan & Renate Loose unterwegs

gesammelte Briefe 2004–2024

4. Teil - Tamil Nadu

Ihr Lieben,

nun nähert sich das Ende des zweiten Kapitels unserer Indienreise. Bevor wir gleich nach Bangkok fliegen und unsere dreimonatige Thailand-Recherche beginnen, möchte ich euch noch einige Impressionen von unseren letzten Wochen zukommen lassen.

 

Wieder zurück im indischen Chaos

Eigentlich beginnt das indische Chaos bereits, bevor wir überhaupt dort angekommen sind. Bereits am Airport in Colombo erklärt man uns, dass wir eigentlich gar nicht nach Indien einreisen dürfen, da man sich nach der neuesten Visaregelung mindestens 2 Monate im Ausland aufgehalten haben muss, bevor eine erneute Einreise mit einem Multiple Entry Visa gestattet wird. Wir verweisen darauf, dass wir aber ein altes Visum aus dem Jahr 2008 haben und deshalb die neue Regelung auf uns nicht zutrifft. Das überzeugt nicht wirklich, aber zumindest lassen sie uns aus Sri Lanka abfliegen.

Kaum haben wir indischen Boden betreten, überwältigt uns das Chaos wie eine Tsunamiwelle: Weder im Flugzeug noch in der Wartehalle gibt es die notwendige Einreisekarte. Als der Chef der Immigration mit einem Stapel Formulare aus der Tür tritt, werden sie ihm aus den Händen gerissen. Ich kann gerade noch zwei vom Boden aufheben, sodass die erste Hürde genommen ist. Nun stellen wir uns voller Ungewissheit in eine der langen Schlange am Schalter für Ausländer an (nebenan gibt es eine kürzere Schlange für Haj-Pilger, an der vergeblich auch andere Inder versuchen sich durchzumogeln).

Als wir endlich dran sind, kommt die unweigerliche Frage, wann wir zum letzten Mal in Indien waren und wann wir das Land verlassen wollen. Erst in 19 Tagen? Das erscheint ihm etwas zu lange, um unseren Aufenthalt als Transit zu tolerieren. Also geht er mit unseren Pässen auf die Suche nach seinem Vorgesetzten. Der (mit den Formularen) wirft einen Blick auf die Pässe, dann auf uns und aus seiner Mundbewegung ist nur eine Silbe abzulesen: "Clear". Danke!!!!! 

Stefan bekommt mit dem ersehnten "klick" seinen Stempel, aber dann, gerade als er meinen Pass einscannen will, bricht das Computersystem zusammen. Von einem Dutzend Schalter arbeiten nur noch drei unter einem Notsystem. Unser Immigration-Beamter ist sichtlich verwirrt. Was tun? "Husband cleared, wife not!" Als wir anmerken, dass nun Stefan einreisen und ich allein zurückbleiben muss, sorgt das für allgemeine Erheiterung. Nach weiteren fünf Minuten geht er mit mir an einen der Notfall-Schalter, und sein Kollege gibt auch mir endlich den Einreisestempel.

Nachdem wir unser Gepäck in einem Berg von Koffern neben dem Förderband gefunden haben, geht es durch ein Gewirr von Passagieren und Wartenden zum Taxistand und spät abends durch die dunklen, fast leeren Straßen zum Hotel, wo wir nur noch ins Bett fallen, denn morgen früh geht es bereits um 6 Uhr weiter mit dem Zug nach Bangalore. 

Früh morgens, auf den noch fast leeren Straßen sehen wir junge Frauen beim Frühsport in Saris mit Joggingschuhen und iPod. Beim Betreten des Kopfbahnhofs schlägt uns eine schwüle, überwältigende Geruchsmischung von Schweiß und Essen (mit einem Hauch Toilette und Desinfektionsmittel) entgegen. Beim Gang durch die riesige Halle voller Schlafender und Wartender, Verkaufsständen mit Snacks, Getränken, Zeitungen und allem anderen, was man für eine bequeme, unterhaltsame Reise braucht, kann ich nur denken: "Indien, du hast uns wieder!"

Es ist wie ein Eintauchen in einen wohl bekannten absolut dynamischen, mehrdimensionalen Raum, ein Angleichen an die Bewegungen und Schwingungen, eine Vielfalt, die wir in diesem Ausmaß in Sri Lanka nicht gefunden haben. Hier kann man überall einfach stehen bleiben und die Welt wie einen mehrdimensionalen Film bestaunen. Doch es ist weit mehr als ein Film, es ist das Leben auf dieser Welt in einer weit größeren Bandbreite als es sich irgendwo anders darbietet. Vor den wartenden Zügen liegen Berge von Paketen, Säcken und anderer Post, und ich frage mich, wie es möglich ist, dass alles seinen Adressaten erreicht.

Der Zug ist voll aber wesentlich bequemer als unser letzter. Wir haben reservierte Sitzplätze und sind, soweit wir sehen, die einzigen Weißen. Ständig kommt jemand durch die Gänge mit Kaffee, Tee, Masala Dosai, Idli (dem südindischen Frühstück), Omelette, Chips und Tomatensuppe. Im Laufe des Vormittags wird es dann herzhafter mit Samosas, Biryani-Reis und Currys. Hinter uns unterhält eine Mutter ihren Kindern mit Mantras (hinduistischen, religiösen Gesängen) vom Handy.

 

In Bangalore

Von allen Metropolen ist Bangalore sicherlich die jüngste, westlichste, hipste. Dank zahlreicher Software-Firmen arbeiten hier unglaublich viele junge Menschen aus ganz Indien, die miteinander meist Englisch sprechen und wesentlich häufiger als in anderen Landesteilen westlich gekleidet sind. Zudem hat die Stadt mit Sicherheit die höchste Dichte an Coffee Day-Filialen, einer indischen Art von Starbucks mit hervorragendem Kaffee, die mit dem Slogan wirbt: "A lot can happen over coffee". Hier in Bangalore wollen wir noch in der Nacht Klaus und seine Tochter Jana treffen, die aus Berlin bzw. Delhi anreisen. Beinahe hätte es Klaus wegen heftiger Schneefälle in Europa nicht geschafft zu kommen, konnte aber in letzter Minute noch auf eine Maschine über London umbuchen, sodass er mit Verspätung am Morgen um 6 Uhr eintrifft. (Nachtrag: Auf dem Rückweg erwischt ihn dann aber doch das Winterchaos, sodass er sich auf dem Land- und Seeweg nach Berlin durchschlagen muss.)

Ein Tag bleibt Klaus, der zum ersten Mal in Indien ist, zum Eingewöhnen und zum Einkleiden für die Hochzeit, zu der er und Jana in knapp zwei Wochen in Chennai eingeladen sind. Dem Anlass entsprechend soll es eine traditionelle Kurta mit etwas Glimmer sein, damit er zu Jana passt, die sich einen hübschen Sari hat schneidern und besticken lassen. Für die weitere viertägige Tour bis Madurai mieten wir uns ein Auto mit Fahrer.

Die Tour beginnt mit einem Besuch in der Reliance Universität, an der Jana in den letzten Monaten studiert hat. Wie ein Raumschiff von einem anderen Stern thront der riesige Campus mit seinen teils neoklassizistischen Gebäuden inmitten der ländlichen Umgebung, in die die ersten Vorboten der neuen Industrie- und Technologiegesellschaft vorgedrungen sind. Hinter hohen Mauern gut bewacht werden die Kinder wohlhabender Inder auf ihre künftige Rolle vorbereitet. Die private Universität macht einen sehr gepflegten, repräsentativen Eindruck - man muss ja was tun für sein Geld, auch wenn - laut Aussage aller deutscher Studenten hier - die Qualität der Lehre nicht dem Standard entspricht, den wir aus Europa gewohnt sind. Es gibt sogar ein Fitnesscenter und einen Laden, in dem man Nutella kaufen kann. 

 

In netter Gesellschaft reist es sich besser

Auf der vierspurigen Autobahn geht es weiter nach Mysore. Der faszinierende Palast des Maharajahs ist ein von einem britischen Architekten Anfang des 20. Jahrhunderts realisierter Traum aus 1001-Nacht. Der kleine Jaganmohan-Palast etwas außerhalb, heute ein Hotel, leidet offensichtlich an Gästemangel. Wir sind die einzigen Besucher, für die man bereitwillig die Bar öffnet, wo wir uns in die Zeit der britischen Kolonialherren zurückversetzt fühlen.

Nur zwei Stunden weiter südlich liegt unser nächstes Ziel, der Bandipur Nationalpark. Bei unseren Jeepfahrten durch den Park sehen wir zwei eindrucksvolle Gaur-Herden, gewaltige Wildrinder, die bis zu einer Tonne wiegen können. Am Morgen zuvor wurde ein Tiger gesichtet, und die Jeepfahrer setzen alles daran, ihn wieder aufzuspüren, aber vergeblich. Die Straße wird schmaler und windet sich in zahlreichen Kurven durch Teeplantagen hinauf in die Nilgiri Hills, wo wir in 2200 m Höhe in Ooty bei ungewohnt kühlen Temperaturen übernachten. Wie viele andere indische Bergorte ist die ehemalige Sommerfrische der Briten nicht gerade schön und eher etwas spröde.

Unser Government-Hotel aus den 40er Jahren hat zwar einen gepflegten Garten mit kunstvoll geschnittenen Buchsbäumen, die Zimmer könnten allerdings etwas mehr Zuwendung von Reinigungsservice gut vertragen. Doch es ist eh zu kalt, um viel Kleidung abzulegen. Das Beste an Ooty sind die Schokoladenläden, in denen auch ungewöhnliche Kreationen wie Bitterschokolade mit Cashewnüssen und Schokolade mit Feigen und Honig verkauft werden. Zudem gibt es einen Coffee Day. Aber das Allerbeste kommt am nächsten Morgen, als wir durch ein enges Tal die steil abfallenden Nigiri Hills Richtung Süden hinab in die Ebene fahren - welch eine gewaltige Berglandschaft! 

 

Im tiefsten Südindien

320 km sind es bis Madurai, für die wir 7 1/2 Stunden brauchen. Madurai, eine der ältesten Städte des Subkontinents, ist so indisch, wie es nur geht. Die große Pilgerstadt mit engen, schmutzigen Straßen wartet mit einem gewaltigen Tempel auf, der uns einen ganzen Tag beschäftigt hält.

Allerdings gibt es in der 4 Millionenstadt keinen einzigen Coffee Day dafür das 'Sree Sabarees Memorable Coffee' ein paar Häuser weiter von unserem Hotel, ein Straßenstand im XL-Format, an dem acht Männer einen Kaffee und Tee nach dem anderen ausschenken, in Metalltassen, Gläsern, Henkelmännern und Thermosflaschen. Der Kaffee, praktischerweise im Einheitsstil mit Milch und Zucker, kostet nur 7 Rupies, im Coffee Day 50 Rupies (80 Cent). Für diesen Preis ist er allerdings überraschend gut, sodass wir in den kommenden Tagen öfter vorbeischauen.

Auch ein Einkaufszentrum suchen wir vergeblich. Dafür gibt es an die 200 Schneider. Unser Schneider Nr. 1 hat ebenso wie Schneider Nr. 2 (und wahrscheinlich Schneider Nr. X) einen Vater, der in Deutschland gelebt hat. Beide umwerben uns zwei Tage lang mit dem Spruch: "Nur schaun, kost nix". Zu Viert in einer Autorikscha bewältigen wir das Sightseeingprogramm, und gerade als wir uns darüber unterhalten, dass keiner mehr in unsere Rikscha passt, hält an einer Kreuzung neben uns eine andere, in der 11 erwachsene Menschen sitzen.

Auf dem weiteren Weg zur Küste legen wir noch einen Zwischenstopp in Thanjavur ein, einer Stadt der Chola-Herrscher (etwa 500 n. Chr.) mit weiteren bedeutenden Tempeln und einem Palast. Dann muss unsere Reiseroute wieder einmal unerwartet geändert werden, da die wichtigste Straße nach schweren Regenfällen überflutet ist. Und so zuckeln wir auf von Schlaglöchern übersäten Straßen durch indische Dörfer nach Pondicherry.

 

Frankreich in Indien

In der einstigen französischen Kolonie Pondicherry ist vieles anders als im restlichen Indien, was wir bei unserem ersten Kaffee in der Alliance Francaise gleich feststellen. Im gepflegten 'weißen' (französischen) Viertel am Meer konzentrieren sich repräsentative Verwaltungsbauten und Stadtvillen. Einige sind vom Sri Aurobindo Ashram in Beschlag genommen, andere zu Boutique-Hotels und Gästehäusern umgebaut worden. In einem dieser wundervollen Häuser wohnen wir, was nach den letzten indischen Hotels absolut himmlisch ist. Jenseits des Kanals schließt sich das 'schwarze' (einheimische) Viertel an, das wiederum in einen muslimischen, hinduistischen und christlichen Teil untergliedert ist. Im letzteren gibt es eine hervorragende Bäckerei, in der wir zum Frühstück belegte Baguettes, Croissants und guten Kaffee bekommen. Wie ihr merkt, ist es uns nach all dem indischen Tee und Idlis der letzten Monate nach Abwechslung zumute. Da wir noch eine andere westliche Exklave kennen, in der es sich entspannt leben lässt, haben wir als letzte Station, wie bei mehreren vorangegangenen Reisen, Mamalapuram auf dem Programm. 

Doch es kommt wieder anders als geplant. Im Cafe lernen wir Nikhil aus Bombay kennen, der am folgenden Tag nach Tiruvanamalai in einen Ashram fahren will. Dieser liegt am Fuß eines Berges, auf dem Shiva einen Wettstreit mit anderen Göttern gewonnen haben soll. Die ganze Geschichte ist, wie so viele der indischen Mythologie, zu komplex, um sie hier zu erzählen. Aber da wir schon immer mal hinwollten, beschließen wir kurzerhand, mit ihm zusammen hinzureisen.

Während Klaus und Jana in Chennai auf der indischen Hochzeit tanzen, fahren wir in den Ashram, pilgern einen steinernen Pfad zur Meditationshöhle von Ramana Maharishi hinauf und umrunden zumindest mit unserem Mietwagen den heiligen Berg.

 

Alle vereint

Spontan entschließt sich Nikhil ebenfalls nach Mamalapuram zu kommen. Auch Jana und Klaus wollen nach der Hochzeit gleich von dem nur 30 km entfernten Chennai in den kleinen Pilger-Fischer-Steinmetz- und Backpackerort kommen, und nicht nur sie, sondern auch ihre anderen deutschen Kominitonen, die ebenfalls auf der Hochzeit waren und die wir bereits aus Hampi kennen. So haben wir nun das halbe Gästehaus, in dem wir hier immer wohnen, in Beschlag genommen, gehen gemeinsam Souvenirs einkaufen und essen. 

Nun müssen wir leider Abschied nehmen, denn in wenigen Stunden geht unser Flieger.

Bis zur nächsten Mail verabschieden wir uns aus Indien mit einem

Om Shanti

Renate und Stefan Loose

 

... Ende.