Ihr Lieben,
keine Sorge, wir haben uns nicht verfahren, denn Bali 9 ist ein bengalisches 10 000-Seelen-Dorf auf der Insel Bali, 4 Std. und doch eine Ewigkeit entfernt von Calcutta in den Sunderbans, dem Mündungsgebiet der großen indischen Flüsse Ganges, Jamuna und Brahmaputra - mit 20 000 Quadratkilometern das größte Delta der Welt, ein fragiles Ökosystem, die Heimat der Bengalischen Königstiger und von ganz besonderen Menschen, den Gezeitenbewohnern, die sich Tag für Tag mit den wechselnden Wassermassen hunderter Flüsse und dem launischen Wetter (das uns wohlgesonnen war) auseinandersetzen müssen. Ein riesiges, aus braunen Wassermassen, Sand, Schlick und Schlamm bestehendes mysteriöses Land.
Bevor ich mich in den Details verliere, möchte ich euch noch vom Beginn unserer Reise berichten. Beim Abflug nach Indien werden wir gleich auf das vorbereitet, was uns erwartet. Bereits eine halbe Stunde vor der Abfertigung stehen vor dem Schalter fuer den Calcutta-Flug die Menschen dicht an dicht mit Massen von Handgepäck. Mit jedem, der für sein Übergepaeck zur Kasse gebeten wird, entspinnt sich eine lange Diskussion, so dass wir erst mit einer halben Stunde Verspätung abheben.
Calcutta nachts um 2 Uhr: Kurz nach dem letzten Monsunschauer dampft die Stadt wie eine Waschküche, die Straßen bis auf einige Ochsenkarren mit Bambus menschenleer, auf den überdachten Bürgersteig in Lumpen gehüllte, schlafende Gestalten - eine gespenstische Atmosphäre. Aber das Hotel war vorbestellt und so tauchen wir ein in die uns wohlbekannte Atmosphäre des Fairlawn in der Sudder Street.
Die meiste Zeit verbringen wir mit der Organisation unserer weiteren Reise, ein Visum fuer Thailand, das Zugticket nach Darjeeling, das Permit für die Sunderbans, die Tour in die Berge und der Flug von dort nach Bubaneshwar sind zu organisieren, und für jede dieser Tätigkeiten ist hier etwa ein halber Tag zu veranschlagen - vor allem wegen des heftigen Verkehrs und der in Papier erstickenden Bürokratie. Als wir am ersten Nachmittag das Zugticket kaufen wollen, erklärte man uns, dass wir dafür den Pass mit dem Visum vorzeigen müssten, da der Pass aber im Thai-Konsulat ist, müssen wir unverrichteter Dinge wieder abziehen. Am nächten Morgen sind wir mit dem Pass zurück, da wollen sie die Umtauschbescheinigung für das Geld sehen. Die Quittung von der ATM liegt aber im Hotel, aber da haben wir sie zumindest überzeugen können, uns doch das Ticket zu verkaufen. Wegen der Feiertage ist natürlich unser gewünschter Zug komplett ausgebucht, so dass wir auf einen langsameren ausweichen müssen.
In der wenigen verbliebenen Freizeit haben wir uns noch im Victoria Memorial Museum eine interessante Ausstellung über die Kolonialgeschichte der Stadt angesehen. Dabei verwundert uns wieder aufs Neue, wieviel Bedeutung in Bengalen der Literatur und dem Journalismus beigemessen wird, und wie schon im 19.Jh. die westliche, auf die Elite des Landes beschränkte Bildung in Verbindung mit der östliche Kultur viele interessante neue Ideen hervorgebracht hat.
Auch aus den Sunderbans haben wir viele interessante Geschichten mitgebracht, von Bona Bibi, der Schutzgöttin und ihrem Widersacher, dem mächtigen Tigergott, den jeder besänftigen muss, der sich den Gefahren des Waldes aussetzt. Von den Honigsammlern, die mit ihren Booten auf abgelegene Inseln fahren, um in den Mangrovenwäldern wilden Honig zu sammeln. Manchmal sind sie 2 Wochen lang unterwegs, und in dieser Zeit haben früher ihre Frauen die weiße Witwenkleidung angelegt, denn sie konnten nie sicher sein, ob ihre Männer jemals zurückkehren würden. Noch immer werden jedes Jahr etwa ein Dutzend Honigsammler vom Tiger getötet, noch mehr Menschen werden von Krokodilen gefressen oder sterben am Schlangenbiss.
Tiger durchschwimmen selbst mit ihrer Beute bis zu 3 km breite Flüsse, und die Insel Bali trennt nur 500 m Wasser von dem Tigerschutzgebiet. Ein auf der ganze Uferlänge gespanntes Nylonnetz soll die 5 Dörfer der Insel schützen, aber erst im letzten Jahr hat sich ein ausgewachsener männlicher Tiger ins Nachbardorf geschlichen. Wir haben bei unseren Bootstouren im Schutzgebiet nur seine Spuren am Ufer gesehen und waren ehrlich gesagt auch gar nicht erpicht darauf, mehr von diesem überaus respektierten und gefürchteten Tier zu Gesicht zu bekommen.
Unsere Begleiter, ehemalige Wilderer, kennen die Sunderbans und haben auch Tiger gejagt. Doch die indische Naturschutzbehörde hat zusammen mit dem WWF und engagierten Einwohnern ein Projekt ins Leben gerufen, den Naturschutz in den Dörfern praktisch umzusetzen. Der täglichen Existenzkampf beschert den Gezeitenbewohnern am Ende eines arbeitsreichen Tages höchstens ein paar Fische und etwas Reis und ermöglicht nur ein sehr einfaches Leben in reisstrohgedeckten Lehmhütten hinter 3 m hohen Lehmdeichen, die insgesamt 10 000 km lang sind !!!, und bei jedem Monsun zu bersten drohen. Diese Menschen sind sich ihrer Abhängigkeit von der Natur sehr bewusst. Doch wie kann man von ihnen verlangen, von dem Wenigen, was sie haben, etwas aufzugeben. Bidhan haben sie gesagt: Wenn du aufhörst zu wildern haben wir für dich einen besseren Job - als Tourist Guide - und diesen Job liebt er mit ganzem Herzen. Zum Abschied bekommen wir als Geschenk von ihm eine Flasche Honig aus den Wäldern der Sunderbans!
Wer sich für dieses mysteriöse Land und seine Menschen interessiert sollte sich den gerade in deutscher Übersetzung erschienenen Roman von Amitav Gosh The Hungry Tide besorgen - ein fantastisches Buch, in dem sich vieles von dem wiederfindet, was wir vor Ort gesehen haben.
Renate und Stefan