TRAVELSTORIES – Stefan & Renate Loose unterwegs

gesammelte Briefe 2004–2024

18.11.04: 2000 km weiter und 2500 m tiefer

Ihr Lieben,

gestern haben wir Zugtickets für die Strecke Puri - Hyderabad - Aurangabad (Ellora, Ajanta) - Bombay - Goa gekauft (insg. 50 Std. Fahrtzeit) und heute ein riesiges Paket mit Schlafsäcken, Jacken und anderen warmen Sachen vom Schneider packen, einnähen und versiegeln lassen und dann zum Postamt gebracht (beide Tätigkeiten erforderten jeweils etwa 2 Std. intensive Action vor Ort).

Die kalte Zeit liegt hinter uns, stattdessen wieder laue Nächte, Straßen ohne Steigungen, Rikschas, Reisegruppen, Traveller, Pilger, Bettler, heilige Kühe (gerade läuft eine vor meiner Nase entlang) und Menschenmassen. Da fragen wir uns: Waren wir in den vergangenen Wochen überhaupt noch in Indien? Von hier aus betrachtet scheint es ein völlig anderes Land zu sein, von dem ich noch kurz berichten moechte, bevor es weiter geht.

Rückblende - In den Bergen

Nachdem wir im Kloster in Rumtek die Gebetstrommeln gedreht haben, geht es mit einem gecharterten Jeep (ein share-jeep befördert nach unserer Zählung bis zu 22 Personen) über kurvenreiche, von Schlaglöchern übersäte Bergstraßen nach Kalimpong. Auf Felsen am Straßenrand besorgte Sprüche wie: "Come home in peace not in pieces"; "Enjoy the valley its not a ralley"; oder mehr philosophisch: "The journey of life is long and the path unknown", und manchmal sogar etwas sexy: "Be gentle on my curves".

Über Jahrhunderte sind Maultierkarawanen aus Tibet auf diesem Weg nach Kalimpong gezogen, einer wichtigen Handelsstation an der Seidenstraße, wo u.a. Silber aus den Bergen Tibets gegen Wolle und Salz aus der Ebene getauscht wurde. Im Silver Oaks Hotel aus britischer Zeit hängen alte Bilder aus jener Zeit. Beim Anblick des Völkergemischs aus Indern, Nepalis, Tibetern und Chinesen auf dem Wochenmarkt, den Bergen von Gewürzen und bunten Farben, den seit Jahrhunderten gleichen Szenen, werden die alten schwarz-weiss Bilder plötzlich lebendig, auch wenn Maultiere durch Jeeps ersetzt worden sind und die Grenze nach Tibet geschlossen ist.

Die einst prächtigen Fassaden der Geschäftshäuser aus den 20er / 30er Jahren und die Ferienhäuser der Briten aus den 40er Jahren sind im Verfall begriffen. Geschäfte erinnern an Kaufmannsläden unserer Kindheit mit in Holzregalen fein säuberlich aufgereihten Soßen, Seifen, Streichhölzern, Keksdosen, Zahnpasta und bunten Getränken, einem Tresen mit großer Waage und davor den Säcken mit Reis, Linsen und Gewürzen. Die Aufschrift an einer Rechtsanwaltspraxis: "advocat, philosopher and friend" lässt uns nachdenken.

Ein Jeep hinauf nach Rishap ist ungewöhnlich teuer, kein Wunder, denn dieses ist eindeutig die schlechteste Straße der Reise. Das Dorf auf einem Felsgrat in 2500 m Höhe hat 16 "Hotels" mit 2 bis 12 einfachen Zimmern ohne Heizung oder Warmwasser. Noch vor 5 Jahren lebten die Menschen ausschließlich vom Ackerbau an einem steilen, terrassierten Berghang, eine mühsame Tätigkeit, die sie kaum ernähren konnte. Dann kamen der Bengale Sukhendu (54), ein alter Freund von Raj (Help Tourism, von dem ich bereits berichtet habe), und seine Nepali-Frau Indira (42) nach ihrem Studium wieder zurück ins Dorf und begannen die ersten Gäste aus Calcutta in Zelten auf ihrem Grundstück zu beherbergen. 2001 entstand ihr Tourist Centre, und andere Dorfbewohner folgten ihrem Beispiel.

 

Noch gehören die Hotels den Familien aus dem Dorf und ermöglichen ihnen ein zusätzliches Einkommen. Aber wie lange noch? Schon leckt ein großer Investor seine Finger nach dieser 1-A-Lage mit 180-Grad-Blick auf das Himalaya-Bergmassiv und schönem Bergwald, seit 3 Wochen gibt es Elektrizität, und eine richtige Straße ist im Bau. Wir wandern den steilen Hang hinab ins Tal, von einem kleinen Gehöft zum nächsten, werden als die ersten Weissen, die sich hierher verirren, bestaunt, mit Tee und Keksen bewirtet, und staunen selbst über das Leben in diesem Teil der Welt.

Während der Wanderung unterhalten wir uns mit Sukhendu über Umweltschutz, Politik, Religion und Literatur, stellen fest, dass er Günter Grass ebenso kennt wie Hesse, Tolstoi und Satre. Sein Leben in der Stadt hat er aufgegeben, die Hektik, das Gehetztwerden und von der Zeit bestimmt werden. Hier in Rishap spielt es keine Rolle, ob es 2 oder 4 Uhr, Freitag oder Sonntag ist. Nur die Kälte macht uns zu schaffen, trotz wärmender Chilies zum Fruehstück und dem über offenem Feuer erhitzten Badewasser, das eine Dusche bei 6 Grad Raumtemperatur einigermaßen erträglich macht.

Feste feiern...

Außer uns sind alle Gäste im Village Bengalis, denn es ist holiday season. Durga Puja (siehe unsere erste Mail) folgt Deevali (das Lichterfest) und Lakhsmi Puja, das wir in den Bergen ausnahmsweise angenehm ruhig mit Wunderkerzen und abendlichen Rundgesängen verbringen. Dann folgt am Tag, an dem in Deutschland der Volkstrauertag begangen wird, Kali Puja, an dem überlebensgroße Kali-Statuen, die 3 Tage lang verehrt wurden, unter Trommeln und Tanzen im Fluss versenkt werden (wie zu Durga Puja). Auf den gleichen Tag fällt das Goutam Gosh Fest, zu dem Brüder von ihren Schwestern gesegnet werden, und der Kindertag.

Nochmal Siliguri - und weiter...

Wir sind bereits wieder in Siliguri, dem Handelszentrum für Tee am Fuß des Himalaya, und von Raj eingeladen, bei seiner Familie zu wohnen und im Kreis der Großfamilie (um 20 Personen im Alter von 6 Monaten bis 70 Jahren) zu feiern. Da wir uns in den Bergen bereits kurz nach Sonnenuntergang der Kälte entfliehend ins Bett verkrochen haben, sind wir es nicht mehr gewohnt, lange zu feiern und verabschieden uns bald.

Am nächsten Morgen stellen wir fest, dass uns Raj das Zimmer gegeben hat, in dem er normalerweise mit seiner Frau und den beiden Toechtern übernachtet. Und wir fragen uns, wo sie in dieser Nacht geschlafen haben. Eine von vielen Fragen.

Von Siliguri leisten wir uns den Flug über Calcutta nach Bubaneshwar. Eine kleine Geschichte am Rande unseres Flugs möchte ich euch nicht vorenthalten: In Sikkim wird ein Brandy in einer kugelförmigen, roten Plastikumhüllung mit dem Namen Fireball verkauft, ein beliebte Souvenir. 3 kalte Naechte in Rishap hat uns sein Inhalt erwärmt, doch die Flasche ist noch halb voll, als wir von Siliguri Richtung Süden fliegen - den Fireball im Handgepäck, aber nur bis zum ersten Sicherheitscheck. Nach dem Durchleuchten die Frage: "What is inside? Fireball?" "What?" "Not allowed!" Nun ist es selbstverständlich, dass Waffen, Messer, Scheren und Explosivstoffe nicht ins Handgepaeck gehören, aber Schnaps? Vielleicht ist es der Name, der ihn suspekt macht? Nein, wie wir herausfinden, ist es die Kugelform, die nicht erlaubt ist.

Nach vehementen Protesten dürfen wir ihn in eine blaue Karstadt-Tüte geschnürt  als Sicherheitsgepäck aufgeben. Bei der Gepäckausgabe würde er uns wieder ausgehändigt. Obwohl wir unsere Rucksäcke nach Bubaneshwar durchgecheckt haben, beobachten wir nach der Zwischenlandung in Calcutta sicherheitshalber das Gepäckband und erblicken zwischen all den Beinen hindurch inmitten riesiger Koffer eine kleine, blaue Kugel: unser Fireball.

Anschließend kam er in Calcutta problemlos durch die Sicherheitskontrollen, dafür haben sie mein Schweizer Messer konfisziert, das sie davor nicht entdeckt hatten.

Eine weitere Lektion, unser logisches Denken zu hinterfragen. Mit vielen neuen Fragezeichen im Kopf und einigen neuen Antworten verabschieden sich für heute

Renate und Stefan Loose

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