TRAVELSTORIES – Stefan & Renate Loose unterwegs

gesammelte Briefe 2004–2024

2.11.2007 - Pakistan

Ihr Lieben,

kurz vor Sonnenuntergang sind es immer noch 30 Grad im Schatten. Der Muezzin ruft aus der nahen Moschee, während wir im Kreis anderer Traveller auf der Dachterrasse vom Regal Internet Inn sitzen, dem Backpackertreff in Lahore, der letzten Station unserer Pakistanreise. Wir diskutieren die derzeit angespannte politische Situation und die jüngste Titelgeschichte der Newsweek, die Pakistan zur gefährlichsten Nation in der Welt erklärt – dank der USA, wie nicht zu Unrecht eine Karrikatur in der lokalen Zeitung anmerkt. Sicherlich sind die Spannungen auch im Straßenbild sichtbar – an wichtigen Straßenkreuzungen steht bewaffnete Polizei. Erst am Sonntag sind wir die Straße in Rawalpindi entlanggefahren, auf der zwei Tage später ein Selbstmordattentäter 7 Polizisten in die Luft gesprengt hat. Alle militärischen Einrichtungen werden streng bewacht, dennoch fühlen sich die Menschen selbst weniger gefährdet als beunruhigt. Mancher trägt es mit Humor, wie J., der meint: „Chinesen produzieren Billigprodukte für den Weltmarkt, Amerikaner die Waffen und wir die Taliban.“

 

Karimabad im Hunzatal

Keine Worte können das herbstliche Karimabad (unser Shangri-La) im Norden in seiner ganzen Farbenpracht beschreiben. Tief unten im Tal hat sich der blaugraue, ungebändigte Gebirgsfluss, der uns bereits seit dem Überschreiten der Grenze begleitet, tief in die sandige Schwemmlandebene eingegraben, durch die sich der Karakorum Highway schlängelt.

Von hier bis hinauf zur Baumgrenze in knapp 3000 m Höhe haben die Menschen die Berghänge urbar gemacht. Auf den Terrassen, die mit hohen Steinmauern befestigt sind, ernten sie Getreide, Kartoffeln und Mais sowie Aprikosen und Walnüsse. Oberhalb der herbstlich-bunten Laubbäume erheben sich die schneebedeckten Gipfel des Rakaposhi (7788 m), Ultar (7388 m) oder Diran (7270 m) wie Boten der fernen Wolkenwelt. Wir steigen zum höchsten Dorf hinauf und genießen den grandiosen Ausblick. Überall werden wir freundlich auf Englisch begrüßt – von den Kindern wie von den alten Menschen und auch von Frauen, was in Pakistan keine Selbstverständlichkeit ist.

Erinnerungen an den 23.10.1960

Jahr für Jahr feiert man im Hunzatal am 23.10. Salgiran Mubarak, den ersten Besuch des Aga Khan im Tal. Der Aga Khan ist das geistliche Oberhaupt der Ismaeliten, Muslime ohne Moscheen und mit weniger strikten Regeln bezüglich der Gebete und des Ramadan. Er fördert viele Entwicklungsprojekte vor allem in den Dörfern der Tajiken, die Ismaeliten sind und in den Bergen von Pakistan ebenso wie jenseits der Grenze in Afghanistan und Tajikistan siedeln. Sein besonderes Anliegen ist die Ausbildung von Frauen, die entsprechend offen sind und auch fremden Männern gegenüber keine Scheu zeigen. Hier sieht man viele Frauen auf den Feldern und in den Straßen im Gegensatz zu den Siedlungen weiter im Süden, wo höchstens 5% aller Menschen in der Öffentlichkeit weiblich sind. Allerdings lassen sich die meisten nicht gern fotografieren.

Zurück zum Feiertag: Tagsüber werden die Ismaili-Versammlungshäuser die statt Moscheen erbaut worden sind, mit bunten Lichterketten geschmückt. Sobald die Sonne untergeht zünden Kinder und junge Frauen kleine Feuer auf den Betondächern der Häuser an. Die jungen Männer sind die umliegenden Berghänge weit hinaufgeklettert, wo nun über allen Dörfern dutzende großer Feuer auflodern. Nun beginnen Feuerbälle ins Tal hinabzurollen. Manche bleiben in den Felsen stecken, andere stürzen nach einer Weile wie Kometen steile Schluchten hinab -  ein spektakulärer Anblick, bei dem uns der Gedanke Herzklopfen macht, dass die Männer noch heute Nacht bei Dunkelheit den langen Weg ins Dorf hinabklettern müssen.

 

Auf dem Karakorum Highway

Eine der Traumstraßen der Welt verläuft über 1300 km von Kashgar in Zentralasien über hohe Bergpässe und durch enge Schluchten nach Havelian kurz vor Rawalpindi in der weiten Ebene des Punjab. Die erste Strecke haben wir mit dem chinesischen Bus und den Businessmen bewältigt (siehe vorangegangene Mail), die zweite bis Gilgit mit Minibussen und die letzte nach Rawalpindi mit einem staatlichen pakistanischen Bus in 16 Stunden mit 2 kurzen Pausen. Wenn der Fahrer den Bus wieder hinauf in die Berge steuert, braucht er sogar 18 Stunden – eine erstaunliche Leistung.

Schließlich würde der pakistanische Teil des „Highways“ in Deutschland am ehesten als reparaturbedürftige Landstraße bezeichnet werden. Nach Erdrutschen, Schlammlawinen und Überschwemmungen muss die Straße ständig repariert werden. Gerade Strecken gibt es selten – in endlosen Kurven geht es zumeist am Hunza und Indus entlang ständig bergab. Ein Denkmal am Straßenrand markiert den Punkt, an dem die Gebirgszüge des Karakorum, Hindukush und Himalaya aufeinandertreffen. Hier sind seit Urzeiten ungeheure Kräfte aktiv, da sich die vom Urkontinent Gondwanaland abgespaltene indische Platte unter die asiatische Platte schiebt, was zu Erschütterungen in Form von Erdbeben, Verwerfungen und Verschiebungen führt – ein wahres Gebirge-Chaos.

Manchmal ist das Tal so schmal, dass die Straße hunderte von Metern über dem Fluss in die steilen Felswände hineingesprengt werden musste – wahrlich keine Fahrt für ängstliche Gemüter, und wer es sich leisten kann, der fliegt.

 

Anita

Im Innenhof des Madina Hotels in Gilgit (das einfache Gästehaus ist der Traveller-Treff) setzt sich beim Mttagessen eine europäische Frau zu uns, die wie die Einheimischen gekleidet ist. Sie ist Austalierin, Mitte/Ende 30 und lebt seit 9 Jahren in Pakistan, zuerst als Mitarbeiterin von NGOs (nichtstaatlichen Organisationen) in Islamabad und seit über einem Jahr in einem kleinen Dorf nahe Gilgit in der Großfamilie ihres Mannes, der Guide ist, und mit dem sie zwei 1 und 3 Jahre alte Söhne hat.

Ihr größtes Problem ist derzeit der Wassermangel. Es ist Herbst, und das Dorf ist abhängig vom Gletscherschmelzwasser. Durch die Wasserleitung, die sie hat bauen lassen, rinnt es derzeit maximal 10 Minuten am Tag durch die Leitung, die im Frühjahr hingegen öfter platzt. Ein Auto ist ihr einziger Luxus, um im Notfall mobil zu sein, wenn beispielsweise medizinische Hilfe benötigt wird. Ihr älterer Sohn hatte kürzlich Hepatitis, weil er wie alle Kinder unabgekochtes Wasser trinkt. Sie genießt es, nach Gilgit zu kommen, und mit Ausländern eine Weile in ihrer Sprache zu reden. Wenn sie sich etwas gönnen will, fährt sie nach Karimabad, wo sie sich nach einem guten Kaffee mit ihren Kindern im Hotel eine halbe Stunde unter die heiße Dusche stellt.

 

Im kommenden Jahr heiratet ihr Schwager. Dann kommt eine neue Frau ins Haus der 25-köpfigen Großfamilie. Sie möchte diese Gelegenheit nutzen, notwendige Veränderungen anzustoßen, die sie sich im Laufe des letzten Jahres überlegt hat. Die jüngste Schwägerin soll mit 13 Jahren noch einmal in die Schule gehen (sie hat 4 Jahre Grundschule hinter sich - der Rest der Familie sind Analphabeten). Anita ist davon überzeugt, dass mit jedem Jahr Schulbildung der Mutter die Lebenserwartung ihrer Kinder um 5 Jahre ansteigt – und viele Kleinkinder sterben in ihrem Dorf. Das ist ein großes Problem für alle. Sie versucht trotz aller Härten ihre Kinder ausgewogen zu ernähren, was nicht leicht ist. Von ihren Obstbäumen kann sie nichts ernten, denn die Kinder plündern die Bäume bevor das Obst reif ist. Wer kann´s ihnen verdenken? Sie haben Hunger. Dann muss endlich die alte Kuh verkauft werden, die keine Milch mehr gibt, aber deren Versorgung mit Futter den Frauen viel Arbeit macht. Doch die Großmutter liebt die Kuh …

Zur Geburt ihres zweiten Sohnes ist sie für 5 Monate zurück nach Australien geflogen. Dort lebt ihre ältere Schwester, die ihre Söhne auch während der Schulausbildung aufnehmen wird. Eine realistische Frau. Schließlich spricht sie auch über allgemeine Probleme. Wie in Großfamilien Kindesmissbrauch verschwiegen wird und der Verrat von Geheimnissen tödliche Folgen haben kann (ohne weiter in Details zu gehen). Selbst die gute Ausbildung der Mädchen der Ismaeliten im Hunza-Tal schafft Probleme. Wenn es an der Zeit ist zu heiraten, wollen sie sich nicht mit einem „dummen Bauerntölpel“ zufrieden geben (die Jungs scheinen nicht so fleißig zu sein), und stürzen sich aus Verzweiflung in die Schlucht – es sollen bereits zweihundert gewesen sein.

 

Taxila – wo sich Griechen und Buddhisten treffen

 

Bereits vor Jahrhunderten wanderten Händler, buddhistische Mönche und die Heere der Erobererer über die Pässe der Hochgebirge hinab in die Täler des Subkontinents. In Taxila, in der Umgebung von Rawalpindi, zeugen inmitten von Feldern und Orangenhainen Ausgrabungsstätten und ein hervorragendes Museum von der Blütezeit der bis über zweitausend Jahre alten Kulturen (2. Jh. v. Chr. bis 6. Jh. n. Chr.).

Hier treffen wir sie wieder: Darius, dessen Grab wir bei Persepolis im Iran besucht haben, Alexander der Große, auf dessen Spuren wir bis Uzbekistan gewandert sind, der erste buddhistische König Ashoka, dessen sozialen Errungenschaften in ganz Indien gepriesen werden und der Apostel Thomas, der in der Kathedrale von Chennai begraben ist (siehe unsere Mail vom verganenen Jahr). Hier lebten sie alle, in Sirkap, einer Stadt, die nach Erdbeben dreimal von Baktriern (Griechen), Skythen und Parthern aufgebaut wurde, aber ihre endgültige Zerstörung durch die Hunnen erfuhr.

Bei den Ausgrabungen wurden viele buddhistische Tempel mit wunderschönen Buddhastatuen freigelegt, aber auch Tempel der Griechen, Jain, Zoroaster, ein Sonnentempel und sogar eine frühchristliche Kirche. Von Rawalpindi aus haben wir uns ein Taxi gechartert, und fahren den ganzen Tag von einer Ausgrabungsstätte zur anderen.

 

Abhängen in Lahore

Am nächsten Morgen sitzen wir in einem Super-Luxusbus, der uns so bequem wie ein Flieger (aber nicht so schnell) nach Lahore bringt. Dort sind wir plötzlich mittendrin im Chaos und Lärm der Großstädte des indischen Subkontinents, umgeben von hupenden Bussen und LKWs, Fahrrädern, Mopeds, Motorrikschas, Pferdekutschen und Eselskarren. Jeder Platz wird genutzt, Menschen überall. Wir ziehen wieder in den bekannten Backpackertreff Regals Internet Inn ein – sichrlich kein Luxushotel, aber ein Ort, an dem man immer interessante Menschen trifft – nicht zuletzt wegen Malik, dem Besitzer. Er kann aus seinem turbulenten Leben als Gewerkschafts- und, Studentenführer, Journalist, Berater von Benazir Bhutto und Leiter des Backpackertreffs viele interessante Geschichten erzählen. Er nimmt uns mit zu sich nach Hause, wo er uns ein eigenes Zimmer gibt (damit wir etwas mehr Privatsphäre als im Schlafsaal haben). Am zweiten Abend feiert sein Sohn seinen 23. Geburtstag, und auch wir sind willkommen mitzufeiern.

Die meiste Zeit verbringen wir mit interessanten Gesprächen über Themen, die einige von euch auch interessieren könnten. Doch die heutige Mail ist lange genug geraten, und ich möchte sie vor unserer Fahrt zur Grenze in Wagah noch abschicken.

 

Von Pakistan nach Indien

Das hat aber nun doch nicht geklappt, da wieder einmal der Strom ausgefallen ist. Nun sind wir bereits in Delhi und haben noch einen kleinen Nachschlag von der Grenze: Im Vergleich zu vor 2 Jahren geht es an der pakistanisch-indischen Grenze viel lebhafter zu. Pakistan hat seit 3 Wochen ein neues Abfertigungsgebäude erhalten mit dem saubersten Fußboden des Landes und einem Röntgengerät für Gepäck. Es wird uns stolz vorgeführt mit der Bemerkung: „No need any more to open luggage – can see everything inside.“ Direkt an der Grenzlinie kommt uns eine Sikh-Familie aus den USA entgegen. Sie reisen zum ersten Mal nach Pakistan in das Dorf des Großvaters, das er vor 60 Jahren nach der Teilung des Landes verlassen hat. Wir hoffen für sie, dass sie noch etwas vorfinden, an das sich der alte Mann erinnert.

 

Nach einem Nachmittag im Goldenen Tempel, dem  Heiligtum der Sikhs, fahren wir früh morgens mit dem schnellsten Zug des Landes nach Delhi. Hier beginnt ein neuer Abschnitt unserer Reise, der uns in Gesellschaft durch den Nordosten Indiens führen wird.


Danach melden wir uns wieder aus Varanasi oder Kathmandu.

 

Renate und Stefan

 

 

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