TRAVELSTORIES – Stefan & Renate Loose unterwegs

gesammelte Briefe 2004–2024

21.11.2007 - Nord-Indien

Ihr Lieben,

schon wieder in Indien – Jahr für Jahr, zum fünften Mal – und immer wieder ist dieses südasiatische Land aufregend und zeigt sich von einer neuen Seite. Amritsar, die erste Station, können wir nicht verlassen, ohne dem Goldenen Tempel einen Besuch abzustatten. Als wir nach über einer Stunde endlich unsere Zugfahrkarte für den nächsten Morgen gekauft haben, erreichen wir kurz vor Sonnenuntergang die imposante Anlage inmitten des Gewirrs der Gassen der Altstadt. Der Goldene Tempel selbst, der das Heilige Buch der Sikhs enthält, spiegelt sich im Wasser eines riesigen Beckens. Mit zunehmender Dunkelheit verblassen alle anderen Gebäude, während die vergoldete Fassade des zentralen Heiligtums im Licht der Scheinwerfer erstrahlt und eine magische Anziehungskraft entwickelt.

 

Delhi

Der Zug fährt bereits um 5 Uhr morgens ab – viel zu früh, um ausgeschlafen zu sein. Er ist voll besetzt mit Geschäftsleuten aus dem Punjab. Permanent klingeln Handys, von denen unser Nachbar allein drei hat, eines davon mit Bollywood-Klingelton, ein anderes weint wie ein Baby. So kommen wir total übermüdet in Delhi an. Dort gibt es allerhand für die Weiterfahrt zu erledigen. Wie es an solchen Tagen nun mal ist, wird man von A nach B nach C geschickt. Geldautomaten zeigen sich von ihrer launischen Seite, sind nicht mehr dort, wo sie mal waren, wollen nur geringe Beträge auszahlen oder sind leer. Auch an die Menschenmassen, den Lärm, Dreck und Gestank müssen wir uns erst mal wieder gewöhnen. Zu allem Überfluss glaube ich, meinen Magen in Zentralasien abgehärtet zu haben, und werde eines Besseren belehrt. Wir sind halt in Indien.

Ein Delhi-Reiseführer mit Vorschlägen für Stadtrundgänge durch Alt-Delhi leitet uns zu versteckten Märkten, kleinen Tempeln und verfallenen Anwesen. Eine schmale Gasse endet an einem einst prunkvollen zweistöckigen Herrenhaus, in dem nun Gewürze gehandelt werden. Hier stapeln sich Säcke mit Pfeffer, Kreuzkümmel, Gelbwurz und Chili. Schon nach kurzer Zeit flüchten wir schniefend mit tränenden Augen ins Freie.

Eine politische Veranstaltung im Zentrum von Delhi hat den Verkehr weitgehend zum Erliegen gebracht. Verkehrspolizisten stehen achselzuckend am Straßenrand, während die Fahrer von Fahrrad- und Motorrikschas in geradezu akrobatischer Weise versuchen, die wenigen Lücken zu nutzen, um sich ein paar Meter vorwärts zu schlängeln. Nach über einer Stunde haben wir endlich die 3 km bis zu unserem Hotel zurückgelegt.

Nach einem Flug um die halbe Welt treffen abends völlig übernächtigt unser Freund Bill Hunt und sein fast 19-jähriger Sohn Ian aus Kalifornien ein, die zum ersten Mal in Indien sind und die nächsten beiden Wochen mit uns reisen werden. Gemeinsam mit ihnen erleben wir Indien aus ganz neuen Perspektiven. Ian ist ein hervorragender Beobachter und hat mir gestattet, seine wunderbaren Mails, die er natürlich auf Englisch schreibt, mitzuschicken. Es beginnt mit dem ersten Tag in Indien:  Ians 1. Mail....

 

Am heiligen Fluss mit heiligen Kühen, Tempeln und Sadhus

 

Haridwar, unser erstes Ziel, ist ein bedeutender Pilgerort der Hindus, denn dort verlässt der heilige Fluss Ganges das Himalaya-Gebirge. Inmitten der Pilger schlendern wir durch die schmalen Gassen, genießen von einem Bergtempel aus die Aussicht und lassen uns kurz vor Sonnenuntergang mit vielen anderen zu den Ghats, den breiten Treppen am Flussufer, treiben.

Dort haben sich tausende bunt gekleideter Menschen aus allen Landesteilen und sozialen Schichten eingefunden, um in der allabendlich stattfindenden Zeremonie die Mutter Ganga zu ehren. Für 20 Cent kaufen auch wir uns Schalen aus Bananenblättern, die mit Rosen, Jasmin und Tagetesblüten gefüllt und mit Räucherstäbchen sowie winzigen Tonlämpchen bestückt sind. Hunderte dieser kleinen, erleuchteten Blumenboote werden von der kräftigen Strömung des mächtigen Bergflusses davongetragen, während die Priester an den Ufern die Feuer entzünden und die heiligen Gesänge erklingen.

 

Weiter flussaufwärts in der Yoga-Welthauptstadt Rishikesh verbringen wir einige erholsame Tage. Die Pilgersaison ist zu Ende, und die Herbergen weiter flussaufwärts sind aufgrund des anbrechenden Winters geschlossen, so dass es ruhiger ist als im vergangenen Jahr. Wir wohnen wieder im ruhigeren Ortsteil Swarg Ashram, der nur durch eine Fußgängerbrücke mit dem Hauptort verbunden ist. Er ist vor allem bei Yogaschülern beliebt. Aus Läden erklingen Mantra-Gesänge, überall werden religiöse Devotionalien, Aryurveda-Produkte, Yogakurse und esoterische Bücher angeboten. Die Ashrams, Ghats und von Felsen umrahmten Strände am Fluss sind ein beliebter Aufenthaltsort der in orangene Gewänder gekleideten Sadhus – so genannte heilige Männer. In Weiß gekleidete Yogaschüler praktizieren am Flussufer ihre Asanas, und aus dem Meditationskreis in der Ferne erklingt ein langgezogenes OM herüber. Die schmalen Gassen sind bevölkert von Fußgängern, Hunden, Affen und heiligen Kühen, die sich weitgehend von den reichlich vorhandenen Abfällen (einschließlich Pappe und Plastiktüten) ernähren. Wir fragen uns, ob auch der Kuhmist als heilig zu betrachten ist.

Bei einer Wildwasserfahrt auf dem Ganges erleben Ian und ich den heiligen Fluss von seiner aufregenden Seite. Bereits nach der ersten Stromschnelle sind wir völlig durchnässt und haben damit auf unsere Art das heilige Bad genommen. Mehr über unsere indische Familie im Schlauchboot, einen durchnässten Pass und den Sprung von der Kippe erfahrt ihr in Ians 2. Mail.


in Rishikesh
in Rishikesh

Diwali in Agra

Bereits zum vierten Mal sind wir zum hinduistischen Neujahrsfest Diwali in Indien – diesmal in Agra. Selbst die Moslems, die etwa die Hälfte der Bevölkerung der Stadt ausmachen, sind in Festtagsstimmung. Alle genießen die süßen Kuchen, die überwiegend aus eingekochter Milch und Zucker bestehen. Die ganze Nacht über steigen Feuerwerksraketen in den Himmel und krachen Böller in den Straßen. Die Geschäfte der Hindus sind mit Tageteskränzen geschmückt, die bergeweise an den großen Straßenkreuzungen verkauft werden. Auch das Sheela Hotel, in dem wir wieder wohnen, ist herausgeputzt. Abends dürfen wir an der Puja teilnehmen, zu der sich alle Angestellten und Familienmitglieder eingefunden haben. Die Zeremonie erinnert mich ein wenig an die Weihnachtsfeste meiner Kindheit. Zuerst werden Kerzen entzündet, dann wird gesungen, und am Ende gibt es süße Kuchen und kleine Geschenke für die Angestellten.

Den Festtag nutzen viele Einheimische, um das Taj Mahal zu besuchen. Wir wohnen am Osttor und können bereits früh beobachten, wie sich eine riesige Schlange festlich gekleideter Einheimischer vor dem Eingang bildet. Daher bevorzugen wir es, das Agra Fort zu besuchen, und genießen erst am folgenden Tag das Highlight vieler Indienreisenden. Auch hier überlasse ich Ian das Wort. Ians 3. Mail

 


Sadhus in Orchha

Es gibt einige geruhsame Orte, die wir immer wieder gern aufsuchen, um während unserer allgemein doch etwas anstrengenden Indienreisen aufzutanken. Einer davon ist Orchha, ein dörflicher Pilgerort mit dem einzigen Tempel Indiens, der Lord Rama, dem Helden des Ramayana-Epos, geweiht ist. Er ist umgeben von verfallenen Tempeln, Lustgärten und Mausoleen, in denen Affen herumtoben und Geier nisten. Alles wird überragt von den mit prachtvollen Wandmalereien ausgestatteten Palästen der einstigen Herrscher von Bundelkand, die sich als eines der wenigen kleinen Reiche erfolgreich gegen die muslimischen Moghul-Kaiser behaupten konnten.

Auch in Orchha wird gefeiert. Traktoren mit Anhängern und völlig überladene Motorrikschas bringen tausende von Frauen zum Tempel, um von Lord Rama den Segen für ihre Familien zu erbitten. Sie sind in Festtagsstimmung und tragen ihre besten, farbenprächtigen Saris. Dennoch ist ihnen die Armut anzusehen. Viele Menschen in den Dörfern leiden Hunger, denn während des letzten Monsuns ist wieder einmal der Regen ausgeblieben, und das Land ist staubtrocken.

In der Hoffnung auf großzügige Pilger und Touristen, die für ein Foto gern ein paar Rupies spenden, finden sich auch viele Sadhus ein. Einige putzen sich geradezu exzentrisch heraus, andere spielen oder singen eintönige Weisen – zu Ehren von Lord Rama ertönt überall Ram Ram. Der abgelegene, nicht mehr aktive Laxmi-Tempel wird nur selten besucht, und die beiden um Aufmerksamkeit konkurrierenden Flöte spielenden Sadhus haben ausreichend Zeit sich herauszuputzen. Wir beobachten sie eine Weile und amüsieren uns mit ihnen darüber, wie einer der Sadhus immer wieder einige Blumen verliert, die er sich kunstvoll ins Haar gesteckt hat. Schließlich hat er es geschafft und beginnt erleichtert sein Ram, Ram, Ram. Stefan setzt sich zu ihm und beginnt mit ihm zu Ram-en. Es entspinnt sich ein wunderbarer Dialog von Lam, Lam, Lam und Ramm, Ramm, der letzendlich alle Beteiligten köstlich amüsiert.

Am Abend sitzen wir in unserem beliebten Straßenrestaurant. Auf der Straße spielen zwei kleine Kinder Cricket, während zur gleichen Zeit nur 100 km entfernt die indische Nationalmannschaft gegen Pakistan spielt und das ganze Land den Atem anhält. Am gegenüberliegenden Straßenrand sitzt ein alter Sadhu, der 83-jährige Baba Papa mit dicker Hornbrille. Auch er beobachtet die Kinder, und wir können sehen, wie ihn das Spiel immer mehr gefangen nimmt und es ihn in den Fingern zuckt, bis er aufspringt, seinen Gehstock und Henkelmann beiseite legt, und mit einer ungeahnten Behändigkeit den Kindern zeigt, wie man den Ball richtig wirft.

 


Varanasi

Der heilige Ort Benares (heute: Varanasi) ist seit Jahrtausenden das Pilgerziel aller gläubigen Hindus Wir wohnen direkt über den Ghats, die zum Ganges hinabführen und das Zentrum der Stadt bilden. Am letzten Tag der Festwoche haben sich tausende von Pilgerinnen eingefunden, um begleitet von Feuerwerk und Böllern (schon wieder eine fast schlaflose Nacht) zum Sonnenuntergang und Sonnenaufgang am Ufer des Ganges zu beten. Sie bringen große Körbe mit Opfergaben zum Wasser und baden mit ihren besten Saris bekleidet in den trüben, schwer kontaminierten Fluten.

Nur wenige Meter weiter werden auf Scheiterhaufen Leichen verbrannt. Doch eine Mail über unsere zwei Stunden am Verbrennungsghat wäre nur unzureichend und ebenso exotisch wie das Foto aus dem verschneiten Oberbayern in der Times of India. Nur soviel: Ein Begräbnis mit Holz ist mit bis zu 3000 Rupies für viele zu teuer. Nur 551 Rupies – knapp 10 Euro – kostet es im Krematorium hinter dem Verbrennungsplatz, und wer sich selbst das nicht leisten kann, beauftragt einen Bootsmann die Leiche im Fluss zu versenken. Nur einen Moment nach einem derartigen Wasserbegräbnis fährt ein Vergnügungsdampfer mit fröhlich singenden Indern exakt über die Stelle im Fluss. Hier ist der Tod ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens, das sich am Flussufer in seiner ganzen Bandbreite präsentiert.

 

Hier wird meditiert und gebetet, geopfert und geheiratet.  Dazwischen spielen Kinder Cricket, lassen Drachen steigen und betteln. Die Ghats dienen als Fitnesscenter sowie als Auditorium für Filmvorführungen und Konzerte, als Tränke für Wasserbüffel und Weideplatz für Ziegen, die sich an den Opferkränzen gütlich tun. Sie sind der beste Ort für Geschäfte jeglicher Art, beliebte Schlafplätze, Badeplätze, Pissoirs und Küchen. Hier arbeiten Steinmetze, Friseure, Masseure und Ohrenreiniger, Schlangenbeschwörer, echte Sadhus und Scharlatane jeglicher Art.

Noch mehr Varanasi gibt es bei Ian zu lesen. Ians 4. Mail...

 

Wir verabschieden uns schon mal aus Indien, denn wir sind bereits in Nepal, genauer gesagt in Lumbini, dem Geburtsort von Buddha eingetroffen. Aus dem Land am Himalaya grüßen euch ganz herzlich

Renate und Stefan

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