Ihr Lieben,
nur wenige westliche Touristen überschreiten im äußersten Osten Nepals die Grenze von Kakarbhitta nach Bagdogra in Indien, so dass wir trotz zweistündiger Verspätung gleich von unserem aus Siliguri (Darjeeling) angereisten Freund Raj im Getümmel der Rikschafahrer und schwer beladenen Heimkehrer entdeckt werden.
Die 18-tägige Tour durch den wenig besuchten Nordosten Indiens ist von Raj und Asit, seinem Kollegen aus Calcutta, sowie vielen Mitarbeitern von Help Tourism geplant und vorbereitet worden. Wir verlassen uns ganz auf sie, denn ansonsten wäre diese außergewöhnliche Reise niemals möglich gewesen, für die neben eigenen Fahrzeugen und einer Campingausrüstung ein Geflecht von Beziehungen und Genehmigungen erforderlich ist. Unser Vertrauen basiert auf den Erfahrungen der vergangenen Jahre, in denen wir bereits mehrere Projekte von Help Tourism im Nordosten Indiens besucht haben – von den Sunderbans im Golf von Bengalen bis zum Manas-Nationalpark an der Grenze zu Bhutan, der nun von ehemaligen Unabhängigkeitskämpfern, den Bodos, geschützt wird.
Das Konzept von Help Tourism ist spannend, denn sie entwickeln Tourismusprojekte in abgelegenen Gebiete unter aktiver Beteiligung der Einheimischen und stellen dabei den Schutz der Natur und einheimischen Kultur in den Vordergrund. Die Mitarbeiter von Help Tourism fungieren als kulturelle Mittler, Ausbilder und Bindeglied zwischen den Projekten. Sie bringen Touristen in die Dörfer, wo sie von Einheimischen betreut werden, die meist in lokalen Naturschutz- oder Jugendorganisationen aktiv sind.
Die gute Seele der Organisation und Ideengeber ist der 42-jährige Raj, bei dessen Großfamilie in Siliguri wir uns wie Zuhause fühlen. Er hat als Biologe bei Naturschutz-Projekten von nichtstaatlichen Organisationen mitgearbeitet und die Erfahrung gemacht, dass Projekte so lange laufen, bis die Experten wieder abziehen und eine nachhaltige Wirkung nur über eine solide Finanzierung möglich ist. Seine anschließenden Erfahrungen beim ersten Rafting-Anbieter in Rishikesh am heiligen Fluss Ganges hat ihn auf die Idee gebracht, dass der Tourismus als Geldgeber selbst in abgelegenen Gegenden ohne ausreichende Infrastruktur den Naturschutzgedanken unterstützen kann und Naturschutz ohne die Unterstützung der Einheimischen nicht machbar ist. Mit diesem Gedanken und seiner mitfühlenden, optimistischen Art schafft er es, selbst einflussreiche Politiker für seine Ideen zu gewinnen, die ihm manche Wege ebnen und Grenzen öffnen. Einer seiner Pläne ist, über eine Burma Road Inheritance Group die Grenzen zwischen Nordostindien, Myanmar, Thailand und China zu öffnen, und ein Teil dieses Planes – sozusagen Versuchskaninchen – sind wir.
Für den ersten Teil der Reisen durch das weite Tiefland des Brahmaputra sind keine Genehmigungen erforderlich. Über Guwahati fahren wir vorbei an Teeplantagen, Reisfeldern, Teakwäldern, Kokospalmen- und Bambushainen sowie dem wunderbaren Khaziranga Nationalpark nach Dimapur. In der Stadt Guwahati wird das Zentrum wegen kürzlich erfolgter Bombenanschläge von schwer bewaffnetem Militär abgesichert.
Im Fluss tummeln sich Süßwasserdelfine, und auf dem höchsten Berg an seinem Ufer werden im uralten Kamakia-Tempel der weiblichen Urkraft des Universums, Shakti, Schlachtopfer dargebracht. Wir betreten das Reich der mächtigen Asuras, der Dämonen der hinduistischen Mythologie, der Kiratas aus dem Mahabharata-Epos, den Flickenteppich asiatischer Völker und Kulturen – hier leben dicht beieinander Bengalen und Bergvölker aus dem burmesisch-chinesischen Raum, vor Jahrhunderten eingewanderte Khmer, Thai-Völker und Tibeter, Flüchtlinge aus dem Delta von Bangladesh sowie Geschäftsleute aus allen Teilen Indiens, Buddhisten, Hindus, Christen und Animisten. Sogar die Fauna und Flora in den Flusstälern an den östlichen Hängen des Himalaya zeigt sich von einer Vielfalt, die ihresgleichen sucht.
In Dimapur treffen wir Angulie, unseren agilen Naga-Guide, der alle erforderlichen Papiere organisiert hat, sowie Asit aus Calcutta, Klaus aus Köln, der in den Dörfern des Himalayas Öfen für eine umweltentlastendere Müllverbrennung baut, und Marcus, der seit einigen Monaten mit seiner Familie in Siliguri lebt und als Diplom-Touristiker die Projekte von Help Tourism mit betreut. Angulie ist Angami und sein Dorf Khonoma, in dem wir 2 Tage zu Gast sind, ist voller kriegerischer Geschichten und großer Helden, unsichtbarer Barrieren und vielschichtiger Verflechtungen, die wir nur durch ihn wahrnehmen können. Er zeigt uns sein Morung, das Schlafquartier der jungen Männer, in dem er aufgewachsen ist, Megalithen, die überall im Dorf vom tapferen Kampf gegen die Britishers und großen Festen künden und informiert uns über die Initiativen des Dorfes, auch im Umweltschutz wie im Unabhängigkeitskampf Vorreiter zu sein.
Highlight unseres Besuchs in Nagaland ist das einwöchige Hornbill Festival, das seit 7 Jahren in der ersten Dezemberwoche in Kohima stattfindet. Im großen Naga Cultural Village außerhalb der Stadt hat jeder Naga-Stamm ein Haus im traditionellen Stil aus Bambus und Palmblättern errichtet. In einigen werden wunderbare Decken und Bambusarbeiten, in anderen traditionelle Gerichte verkauft. Jedes Haus hat seine eigene Stimmung, doch überall werden wir freundlich begrüßt – denn Touristen tauchen selbst hier nur vereinzelt auf. Dafür haben sich tausende Nagas auf dem Festplatz eingefunden, die den in traditionellen Kostümen gekleideten Tänzern zuschauen. Sie fühlen sich bei den Mitgliedern ihres eigenen Clans sichtlich wohler, lassen sich die Nationalspeise, fettes Schweinefleisch mit saurem Bambus auf Bergreis, schmecken und spülen ordentlich mit Reisbier nach. Das Bier ist verdünnt, doch Angulie kennt einen Platz drunten am Fluss, wo es gutes Reisbier gibt und wir den Abend beschließen.
Mit 2 Geländewagen fahren wir in 12 Stunden weiter nach Mon im Norden von Nagaland. Die schmalen, teils unbefestigten Straßen verlaufen meist auf Bergkämmen, wo auch die Dörfer liegen, die so besser gegen feindliche Angriffe geschützt sind. Allerdings muss dafür das Wasser aus den Tälern oft kilometerweit heraufgeholt werden. Immer wieder begegnen wir Menschen mit schweren Kiepen voller Brennholz und Viehfutter. Auf den brandgerodeten Feldern wird neben Bergreis und Gemüse auch Schlafmohn angebaut und neben der Malaria stellt die Opiumabhängigkeit ein großes Problem dar. Es ist bereits dunkel, als 40 km vor Mon mitten im Wald unser erstes Auto am Hang im Schlamm steckenbleibt. Nach einigen bangen Minuten sind wir wieder auf der Piste und hoffen, dass die Straße endlich besser wird. Doch plötzlich taucht vor uns wie eine Fata Morgana ein Lager auf: Jugendliche sitzen um ein offenes Feuer und verkaufen im Schein von Fackeln Tee und Kuchen – eine Wohltätigkeitsveranstaltung mitten im Wald, kilometerweit vom nächsten Dorf entfernt.
Wir besuchen Chui, ein traditionelles Dorf der Konyak-Naga, 12 km nördlich von Mon. Im Gegensatz zu Khonoma sind die Häuser noch überwiegend aus Bambus errichtet. Das Häuptlingshaus ist durch ein Bambus-Fort geschützt und steht gegenüber der neuen baptistischen Kirche. Eine Ruine auf dem dazwischen liegenden großen Platz erregt unsere Aufmerksamkeit. Wir erfahren, dass dieses das Haus war, in dem die Kopfjäger ihre Trophäen aufbewahrten, bis der Pater die Schädel entfernen ließ. Wir treffen den 85-jährigen Häuptling im dusteren Häuptlingshaus unter rauch- geschwärzten Jagd-Trophäen.
Mit seinen verblassten Tätowierungen wirkt er wie ein Geist aus der vergangenen Welt der Kopfjäger. Erst später erfahren wir, dass die letzte dokumentierte Kopfjagd im Jahr 1989 stattfand.
Das indische Grenzgebiet zu Myanmar und China ist selbst Indern aus anderen Staaten nur mit Sondergenehmigung zugänglich und für Ausländer teils komplett gesperrt. So betreten wir in Ost-Arunachal eine Region, die selbst im neuesten Lonely Planet über Nordost-Indien nicht beschrieben wird. Inzwischen haben uns Marcus und Asit verlassen. Dafür ist Raj zu uns gestoßen, der mit uns touristisches Neuland erkunden will. Die erste Station ist ein Camp am Lohit River, das bereits von unserer Vorhut aufgebaut worden ist, und aus Zelten, einem semi-permanenten Bambus-Restaurant und einer Küche auf Stelzen sowie zwei Toilettenhäuschen besteht. Gleich am ersten Morgen werden wir vom Minister von Arunachal und einflussreichen Großgrundbesitzer Chow Twa Min zum Frühstück erwartet. Er gehört zu den Khamti, einer Untergruppe der Shan, die ebenso wie die Thai aus dem heutigen Yunnan stammen. Sein Vater war Elefantenfänger, und noch immer spielen Elefanten vor allem beim Holzeinschlag, eine bedeutende Rolle. Über hundert Elefanten arbeiten allein in den Wäldern der Umgebung.
Vier davon hat Raj organisiert, um mit uns und dem Minister einige Stunden durch die Umgebung zu reiten. Wir durchqueren brandgerodete Felder, hohes Elefantengras, lichte Wälder und mehrere glasklare Flüsse, picknicken am Flussufer und werden von Assamesen auf dem reißenden Fluss wieder zurück ins Camp gerudert.
Es ist schon erstaunlich, dass man selbst das Wasser des Lohit River, der breiter als die Elbe ist, unbedenklich trinken kann. Der Minister ist erstaunt, als dieses bei uns große Bewunderung hervorruft und als etwas ganz Besonderes gepriesen wird. So hoffen wir, dass er noch einmal über seinen Plan nachdenkt, eine Papierfabrik zu bauen, nur weil diese von der Zentralregierung gefördert wird, und stattdessen auf den Tourismus setzt.
Am zweiten Tag haben wir vier Einladungen zum Mittagessen und nehmen die des Abtes an, der das Sanskrit-Internat leitet. Wir besuchen die Schule mit braven Kindern, die neue Peace-Pagode und den alten Teakholztempel, in dem auch ein Buddha aus Sukhothai (Thailand) steht und uns zu verstehen gibt, dass wir hier den missing link zwischen Europa und Südostasien gefunden haben und unsere Reise ihr Ziel erreicht hat.
Noch haben wir einige Tage Zeit: Wir bekommen handgewebte Khamti-Wickelröcke geschenkt, die wir gleich tragen, denn es wird ein Fest vorbereitet. In unserem Camp führen junge Männer aus dem Ort in fantastischen Kostümen traditionelle Tänze auf, die Ehrengästen vorbehalten sind. In der Küche werden in zwei Stunden frisch gefangene Fische, ein Korb voller Blätter und Kräuter mit dem Flusswasser zu einer kalten Suppe verarbeitet, die traditionell an Festtagen gegessen wird.
Auch die nächsten Stationen sind voller Überraschungen und aufregender Begegnungen. Wir baden (zumindest die Füße) am Brahma Kund, dem heiligen Ort, an dem der eiskalte Fluss den Himalaya verlässt und zum Brahmaputra wird, essen bei den Mishmi frisch geerntete Orangen vom Baum und sauren eingelegten Bambus. Im Namdapha Nationalpark beobachten wir vom Rücken unserer Elefanten aus die bedrohten Hoolock-Gibbons.
In einer winzigen Dorfschule der Shakma erkennen wir, wie wir konkret mit einem Schulprojekt helfen können. Schließlich geht es noch nach Manmao. Hier erstreckt sich eine fantastische Bergwelt mit dichten Wäldern und traditionellen Thangsa-Dörfern, in denen Fremde willkommen sind und englisch gesprochen wird – ein ideales Trekkinggebiet.
Noch dürfen Ausländer nicht hierher reisen (wir werden als Inder ausgegeben, die wie Europäer aussehen). Aber wenn sich diese Region dem Tourismus öffnet, wird man hier noch bessere Trekkingmöglichkeiten haben als in den Bergen Nordthailands vor 30 Jahren. Auf der alten Stilwell bzw. Ledo Road machen wir uns auf den Weg zur burmesischen Grenze – auf der selben Straße, auf der die Aliierten während des 2. Weltkriegs den Nachschub im Kampf gegen die Japaner nach Yunnan brachten. Wir sind im Sperrgebiet, haben aber eine Sondergenehmigung und werden von jungen Thangsa-Männern aus dem Grenzort Nampong unter der Leitung von Nim Bong Sena begleitet, der uns durch alle Kontrollen bringt. Nach einer Übernachtung im schmuddligen Circuit House, das reisenden Regierungsbeamten als Unterkunft dient, machen wir uns auf den Weg zur Grenze.
Heute ist Wochenmarkt in Pangsau in Myanmar, und im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs dürfen Einheimische den Markt besuchen. Wir schließen uns ihnen an. Am indischen Grenzkontrollposten sind neun Männer mit unseren Papieren von diversen Behörden beschäftigt. Wir haben die Unterstützung der Politiker, die diese Grenze öffnen wollen, während Militärs daran wenig interessiert sind und entsprechenden Widerstand leisten. Erst nach einem längeren Telefonat mit dem Vorgesetzten dürfen wir passieren. Nun geht es hinauf auf den Pass, der die Grenze zu Myanmar bildet. Der burmesische Grenzposten befindet sich erst einige Kilometer weiter kurz vor Pangsau nahe dem Lake Of No Return. Ob wir auch diese Hürde nehmen können erfahren wir erst, wenn sich auch für uns die Schranke öffnet …
Aus Berlin, wo wir einen kurzen Zwischenstopp einlegen, wünschen wir euch allen ein interessantes, gesundes Jahr 2008.
Renate und Stefan
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